Der Bürgerkrieg in Äthiopien: Hintergründe, Ursachen und seine Auswirkungen auf das Horn von Afrika

Veröffentlicht am 6. April 2024 um 15:11

Dr. Mussie Habte

Äthiopien und das Horn von Afrika

Seit Anfang November 2020 tobt in Tigray, dem nördlichsten Bundesstaat Äthiopiens, ein Bürgerkrieg zwischen der dortigen Regionalverwaltung und der äthiopischen Zentralregierung unter Führung von Ministerpräsident Dr. Ahmed Abiy. Der Konflikt schwoll schon seit der Wahl von Abiy Ahmed im Jahre 2018 zum äthiopischen Ministerpräsidenten. Das Säbelrasseln beschränkte sich zunächst bis Anfang November allerdings auf Wortgefechten und gegenseitige Drohungen. Beide Seiten überzogen sich dabei mit Propaganda, indem sie sich anhaltend politisch de-legitimierten und mit Sanktionen überschütteten. Anfang November eskalierte der Machtkampf dann in einen offenen Krieg.  

Bisher findet der Konflikt unter Ausschluss der Weltöffentlichkeit statt, da die äthiopische Zentralregierung alle Kommunikationskanäle in und nach Tigray gekappt hat. Entsprechend gibt es kaum verlässliche und unabhängige Berichterstattung über den Konflikt. Informationen über das Kriegsgeschehen sind derzeit lediglich über die Konfliktparteien selbst erhältlich. Allerdings sind diese mit Vorsicht zu genießen, da diese nichts mit einer neutralen Berichterstattung zu tun haben und eher dazu dienen, den Gegner zu verunglimpfen und die eigene Position als die einzig richtige zu glorifizieren. Darüber hinaus finden sich in den Sozialen Medien unzählige Informationen und Berichte, von in der Diaspora lebenden Aktivisten. Aber auch diese sind weit von einer neutralen Berichterstattung entfernt. Vielmehr handelt es sich bei den Berichten um Propaganda und Hasskampagnen, mit dem Ziel, die gegnerische Seite mit unbestätigten Meldungen zu diskreditieren und zu diffamieren.

Der folgende Artikel versucht Licht in den anhaltenden Konflikt zu bringen und insbesondere die Hintergründe zu beleuchten, die zu einem offenen Krieg führten zwischen der äthiopischen Zentralregierung und der tigrayischen Regionalregierung, die von der ehemaligen Tigray People’s Liberation Front (TPLF) gestellt wird. In den westlichen Medien wird gelegentlich der Eindruck erweckt, als sei der Krieg plötzlich und aus heiterem Himmel entflammt. Diese Darstellung greift leider viel zu kurz und wird der Tragweite der politischen Entwicklungen, die zum aktuellen Konflikt geführt haben, nicht gerecht bzw. blendet diese gar völlig aus. Dem Konflikt liegen dabei komplexe innenpolitische und regionale Ursachen zugrunde, die bei der Berichterstattung häufig nicht erwähnt oder aber nur beiläufig kurz angeschnitten werden.

Politischer Niedergang der TPLF und Aufstieg von Abiy Ahmed zum äthiopischen Ministerpräsidenten

Der Anfang vom Ende der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Dominanz der TPLF als äthiopische Regierungspartei begann unmittelbar nach dem Tod von Meles Zenawi im Jahre 2012. Meles regierte Äthiopien zwei Jahrzehnte als Ministerpräsident mit eiserner Faust. Er war unweigerlich der Kopf der TPLF. Er formte die TPLF von einer ehemaligen ethnonationalen Befreiungsbewegung zu einer führenden Regierungspartei in Äthiopien, die unter der Sammelbewegung Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front (EPRDF)[1] die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Geschicke des Landes nicht nur mitbestimmte, sondern sehr stark dominierte. Zenawi war auch der Erfinder des Konzepts des ethnischen Föderalismus, der nach dem Sieg über das Mengistu-Regime, 1991 als Staatsform in Äthiopien in der Verfassung verankert wurde.

Die TPLF begann 1975 in den Bergen von Tigray ihren Kampf gegen das Militärregime von Mengistu als eine ethnonationale Volksbefreiungsbewegung, um in erster Linie die Provinz Tigray von der politischen und kulturellen Dominanz der Amharen zu befreien – der äthiopische Staat wurde in dieser Zeit als von der Volksgruppe der Amhara dominiertes Gebilde verstanden. In ihrem politischen Manifest wurde daher als Ziel die Abspaltung vom äthiopischen Staatsverband und der Aufbau einer eigenständigen „Republik Groß-Tigray“ verankert. Entsprechend waren die ersten Jahre des bewaffneten Kampfes ausschließlich diesem Ziel gewidmet. Erst nach und nach begann sich die TPLF-Führung unter Meles Zenawi von diesem ethnonationalen Ziel zu distanzieren und im Sinne einer gesamtäthiopischen Politik zu denken. Die endgültige Abkehr von der Idee der Abspaltung wurde schließlich mit der Gründung der politischen Sammelbewegung EPRDF im Jahre 1989 besiegelt.

Das Manifest der TPLF und insbesondere die Idee der Sezession traf vor allem bei der Eritrean People’s Liberation Front (EPLF), die für die staatliche Unabhängigkeit Eritreas zunächst gegen Kaiser Haile Selassie und später gegen das Mengistu-Regime einen langwierigen bewaffneten Befreiungskrieg führte, auf heftigen Widerstand.[2] Die EPLF sah darin eine Konkurrenz für ihre eigenen politischen Bestrebungen in Eritrea; zumal die EPLF den Standpunkt vertrat, dass nur Eritrea aufgrund der kolonialen Geschichte ein legitimes Recht auf die staatliche Souveränität hätte. Tigray hingegen wurde das Recht nach eigener Staatlichkeit abgesprochen und vielmehr als integraler Bestandteil des äthiopischen Staates betrachtet. Die Bestrebung des tigrayischen Volkes sollten sich daher darauf ausrichten, mehr regionale Autonomie innerhalb des äthiopischen Staates zu erlangen. Diese gegensätzlichen Interpretationen führten zwischen den beiden Volksbefreiungsfronten häufig zu Spannungen und Konflikten.[3] Aber angesichts des gemeinsamen Feindes waren beide Seiten zur militärischen Zusammenarbeit gezwungen, weshalb sie darauf achteten, die Auseinandersetzungen nicht eskalieren zu lassen.

Die TPLF konnte schließlich 1991 mit militärischer Unterstützung der EPLF die äthiopische Hauptstadt und damit auch die Zentralgewalt in Addis Abeba erobern. Über 27 Jahre lang konnte die TPLF mit Hilfe der EPRDF-Koalition Äthiopien regieren. Die EPRDF-Sammelbewegung bestand aus Satellitenparteien, die völlig von der TPLF abhängig waren. Obgleich die Volksgruppe der Tigrayer nur sechs Prozent der äthiopischen Gesamtbevölkerung stellen, konnten sie aufgrund der militärischen Vormachtstellung der TPLF unangefochten die Geschicke des Landes bestimmen. Ein Instrument, mit dem die Hegemonie der TPLF zementiert wurde, stellte dabei die Art und Weise dar, wie die TPLF das Konzept des ethnischen Föderalismus ausgestaltete. Unmittelbar nach ihrer Machtergreifung reorganisierte die TPLF den äthiopischen Staat grundlegend. Demnach wurde Äthiopien zu einem föderalen Bundesstaat umgebaut, in der die einzelnen Bundesstaaten nach ethnischen Kriterien eingeteilt wurden. Die größeren Volksgruppen erhielten dabei jeweils eine eigene Region.[4] Zudem wurde in der neuen Verfassung das Recht auf Selbstbestimmung jeder ethnischen Gruppe als ein grundlegendes Prinzip des föderalen Systems verankert. 

Aus emanzipatorischer Perspektive hätte der ethnische Föderalismus durchaus ein guter Ansatz sein können, um den unterdrückten Völkern mehr regionale Autonomie und Mitbestimmungsrechte einzuräumen. Aber der TPLF ging es nie darum. Das föderale System kam nie in der Weise zum Tragen, wie es in der Verfassung von 1995 vorgesehen war. Das lag in erster Linie darin, dass die TPLF-Führung das Land, trotz der in der Verfassung verbrieften Rechte, nach wie vor zentralistisch und autoritär regierte.[5] Es wurden zwar Wahlen durchgeführt, allerdings waren diese werde frei noch fair. Parteien, die außerhalb der EPRDF-Koalition agierten, hatten aufgrund der repressiven Politik kaum eine faire Chance, daran zu partizipieren. Entsprechend ging immer wieder die EPRDF-Regierung als Sieger aus den Wahlen hervor. Die TPLF-Führung zelebrierte letztendlich eine Schaufenster-Demokratie, um ihre Geldgeber und Unterstützer im Westen zufriedenzustellen.  

Daher blieb das föderale System in der politischen Realität ein leeres Versprechen, das nie eingelöst wurde. Für die TPLF-Führung war es vielmehr ein Herrschaft- und Machtinstrument, mit dem sie ihre Minderheitsregime aufrechterhalten konnte. Vielerorts führte dies zunehmend zu Enttäuschungen und Frustrationen bei vielen Äthiopier*innen. Insbesondere bei den Oromo und Amhara traf der Hegemonialanspruch der TLPF zusehends auf Widerstand. Zugleich verstärkte das System des ethnischen Föderalismus die gesellschaftliche Polarisierung, was sich darin manifestierte, dass die ethnischen Spannungen und Konflikte immer mehr zunahmen. 

Nur mittels repressiver Anwendung von Gewalt konnte die TPLF ihre Vormachtstellung noch aufrechtzuerhalten. Dies galt insbesondere, solange noch Meles Zenawi lebte und die Geschicke des Landes bestimmte. Obgleich Zenawi repressiv gegen die Opposition und Andersdenkende vorging, wurden er und seine Regierung dennoch vom Westen hofiert. Äthiopien wurde zum Lieblingskind der internationalen Gemeinschaft in Afrika und zeitweise zum größten afrikanischen Empfänger von Entwicklungshilfe. Für den Westen war Meles ein verlässlicher Partner im Kampf gegen die islamistischen Al Shabab-Milizen in Somalia. Äthiopien unter Zenawis Führung wurde als ein Stabilitätsfaktor am Horn von Afrika gesehen. Dies galt übrigens auch für die deutsche Politik. Auch die Bundesregierung unterstützte das Zenawi-Regime trotz anhaltender Menschenrechtsverletzungen und Unterdrückung der Opposition. 

Der plötzliche Tod von Zenawi 2012 stellte für die TPLF und ihrer Vormachtstellung in der äthiopischen Politik eine Zäsur dar. Zenawis Ableben hinterließ innerhalb der TPLF und ihrem politischen Arm EPRDF ein großes Machtvakuum, das kaum geschlossen werden konnte. Die TPLF verlor mit ihm nicht nur ihre Führungs- und Galionsfigur, sondern auch eine Autoritäts- und Integrationsfigur, die auch für das Weiterbestehen des ausgeklügelten EPRDF-Systems von großer Bedeutung war. Sein Tod bereitete zugleich auch den politischen Boden, dass in Äthiopien offen über bestehende politische und gesellschaftliche Missstände gesprochen werden konnte.

Hailemariam Desalegn[6], der von der TPLF als Vorsitzender der EPRDF und Ministerpräsident des Landes bestimmt wurde, vermochte zu keiner Zeit annähernd die Machtlücke zu füllen, die Zenawi hinterließ. Er wurde von der TPLF schlichtweg als Strohmann missbraucht. Als Angehöriger der Volksgruppe der Wolaytta sollte seine Bestellung zum Ministerpräsidenten von der Kritik der tigrayischen Dominanz ablenken. Tatsächlich hatte Hailemariam Desalegn weder in der EPRDF noch in der Regierung, die er führte, eine eigene Basis bzw. Richtlinienkompetenz und war völlig vom Wohlwollen der TPLF abhängig. Er konnte sich entsprechend zu keiner Zeit von der TPLF emanzipieren oder gar eigene politische Akzente setzen, um die bestehenden Probleme des Landes zu lösen. 

Vielmehr verwaltete er als Technokrat die Vermächtnisse der TPLF. Das autoritäre und repressive Gebaren der TPLF setze sich indessen auch unter Hailemariam Desalegn fort. Deutlich wird dies durch das Ergebnis der Parlamentswahl vom Mai 2015. Die EPRDF errang bei der Wahl nahezu 100 Prozent der Stimmen und schloss in der Folge alle Oppositionsparteien von der politischen Mitwirkung aus.[7] Insgesamt blieb Hailemariams Regentschaft widersprüchlich und ambivalent. Gleichwohl war sie ein Wegbereiter für die jetzt stattfindenden Reformprozesse.

Einhergehend mit diesen Entwicklungen verlagerte sich der zivile Widerstand immer mehr auf die Straße. Insbesondere in den Bundesstaaten Oromo, Amhara und Somalia kam es immer wieder zu Bürgeraufständen. Obgleich die Sicherheitsapparate repressiv dagegen vorgingen, konnten sie die Proteste dennoch nicht beenden. Angesichts der politischen Öffnung trugen Dutzende ethnische Gruppen ihre konkurrierenden Ansprüche auf Land, Ressourcen und politische Einflussmöglichkeiten vor und machten den Frustrationen der vergangenen Jahrzehnte Luft. Das Ergebnis war ein Anstieg ethnischer Spannungen und Gewaltkonflikte in einem bisher nicht dagewesenen Ausmaß, was in Teilen des Landes zu einem Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung führte.

Im Oktober 2016 drohte die Situation abermals aus dem Rudern zu laufen. Überall im Land flammten erneut Massenproteste gegen die Zentralregierung auf. Vor allem in der Region um die Hauptstadt Addis Abeba eskalierten diese in einer Zerstörungswut.[8] Armee und Demonstranten lieferten sich in den Straßen blutige Auseinandersetzungen. Auch in den Oromo-Gebieten gingen die Unruhen unvermindert weiter. Ein Erntedankfest Anfang Oktober in der Oromia-Region entwickelte sich zu einer offenen Anti-Regierungs-Demo, als ein der Regierung nahestehende Politiker eine Rede vor den Pilgern halten wollten und daraufhin sich Sprechchöre für Gerechtigkeit und Demokratie erhoben. Auf diese Proteste reagierten die Sicherheitskräfte mit dem Einsatz von Tränengas und scharfer Munition, sodass Panik unter den Hunderttausenden Oromo-Pilgern ausbrach. Nach Informationen der Opposition starben dabei über 600 Menschen.[9]

Als Reaktion auf die Unruhen verhängte die Regierung daraufhin einen Ausnahmezustand, der bis zu sechs Monate lang gelten sollte. Sechs Monate, in denen Demonstrationen verboten wurden, das Internet nur eingeschränkt nutzbar war und Menschen ohne richterliche Genehmigung wahllos verhaftet werden konnten. Während des Notstandes hatten die Sicherheitskräfte ein rigoroses Durchgriffsrecht und nahmen mehr als 22.000 Oromo willkürlich fest.

Der Ausnahmezustand dauerte tatsächlich zehn Monate und wurde erst im August 2017 von der Regierung beendet. Kurzfristig gelang es zwar der Regierung, durch die repressiven Mittel die Proteste oberflächlich zu unterdrücken, aber den Unmut und den Widerstand in der Bevölkerung konnte sie damit nicht brechen. Die Proteste sowohl bei den     Oromo als auch den Amhara brodelten weiterhin. Bereits während dieser Proteste begannen sich Oppositionelle von Oromo und Amhara gegen die Vorherrschaft der Tigray-Eliten zu verbünden, was in der äthiopischen Geschichte eine ganz neue Qualität darstellt.

Im Februar 2018 gab Ministerpräsident Hailemariam Desalegn - angesichts der jahrelangen landesweiten Massenproteste - überraschend seinen Rücktritt bekannt. Er legte sowohl das Amt des Ministerpräsidenten als auch den Vorsitz der EPRDF nieder. Noch überraschender wurde am 27. März 2018 Dr. Ahmed Abiy[10] - der zuvor kaum öffentlich bekannt war - in einer geheimen Wahl zum neuen EPRDF-Vorsitzenden gewählt. Erst kurz davor wurde Ahmed Abiy zum Parteivorsitzenden der Oromo People’s Democratic Organisation (OPDO) gewählt, nachdem sein populärer, aber aus formalen Gründen nicht in Frage kommender Vorgänger, Lemma Megersa[11], den Posten an ihn abgetreten hatte. Damit hatte Ahmed Abiy als erster Oromo in der äthiopischen Geschichte einen Anspruch auf das Amt des Ministerpräsidenten.

Die Wahl von Ahmed Abiy zum Vorsitzenden der EPRDF erfolgte durch das 180 Stimmen umfassende EPRDF-Exekutivkomitee. Zur Wahl hatten sich neben Ahmed Abiy, Demeke Mekonnen, der stellvertretende Ministerpräsident und Vorsitzender der Amhara National Democratic Movement (ANDM), Shiferaw Shigute, Vorsitzender der Southern Ethiopian People's Democratic Movement (SEPDM) und Dr. Debretsion Gebremichael, Vorsitzender Tigray People's Liberation Front (TPLF), gestellt.[12] Demeke Mekonnen, der als ernsthafter Konkurrent von Abiy gehandelt wurde, zog wenige Stunden vor der Wahl überraschend seine Kandidatur zurück; damit stiegen die Chancen von Abiy deutlich.

Denn mit dem Rückzug von Demeke Mekonnen konnte sich Abiy sowohl die Stimmen seiner OPDO als auch der ADP sichern. Weitere 18 Stimmen erhielt er von den anderen Parteien. Insgesamt wurde Abiy mit 108 Stimmen zum Vorsitzenden der EPRDF und damit auch zum Nachfolger von Hailemariam Desalegn als Ministerpräsidenten gewählt. Shiferaw Shigute von der SEPDM erhielt 58 Stimmen.

Dagegen musste der Kandidat der TPLF eine herbe Niederlage einstecken. Dr. Debretsion Gebremichael wurde vorgeführt und erhielt gerade mal zwei Stimmen. Damit gelang es ihm nicht mal, die 45 Stimmen, die der TPLF im Präsidium der EPRDF zustanden, zu erhalten. Dieser Vorgang machte deutlich, dass sich das EPRDF-Machtgefüge völlig verschoben hatte und die TPLF damit ihre Vorherrschaft innerhalb der EPRDF verlor. Der Nimbus der TPLF als allein bestimmenden Kraft war damit endgültig gebrochen. Die Wahl von Abiy zum EPRDF-Vorsitzenden zeigte zugleich, dass sich die ehemals von der TPLF als Satellitenparteien etablierten regionalen Parteien politisch emanzipiert hatten. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte agierten sie strategisch und konnten durch eine Allianzbildung die Mehrheit in der EPRDF erringen und die TPLF in die Schranken weisen. Wahl von Abiy zeigt zugleich auch ein neues Selbstbewusstsein der verschiedenen Volksgruppen, die allerdings aber auch Sprengkraft für den Vielvölkerstaat birgt. Wie sich später zeigte wird, hat sich die TPLF von dieser herben politischen Niederlage nicht erholt. Am 2. April 2018 wurde schließlich Ahmed Abiy vom Volksrepräsentantenhaus zum äthiopischen Ministerpräsidenten gewählt und legte am gleichen Tag sein Amtseid ab.  

Eskalation der Spannungen zu einem offenen Bürgerkrieg

Mit der Verschiebung der Mehrheitsverhältnisse innerhalb der EPRDF und der Wahl von Abiy zum Ministerpräsidenten, verlor die TPLF zusehends an politische Bedeutung. Sie musste zugleich schmerzlich feststellen, dass (das von ihr etablierte politische System) allmählich aus den Rudern lief. Abiy hingegen leitete unmittelbar nach der Amtsübernahme wichtige politische Reformen ein, indem er langjährige politische Gefangene aus den Gefängnissen entließ und Richtung Eritrea seine Bereitschaft signalisierte, den lang schwelenden Grenzkonflikt friedlich beilegen zu wollen. Zudem hob er den zweiten Ausnahmezustand auf, der unmittelbar nach Bekanntgabe des Rücktritts von Hailemariam Desalegn verhängt worden war.

Als zupackender Reformer gewann Abiy in kürzester Zeit das Herz und das Vertrauen vieler Äthiopier. Insbesondere seine Versöhnungs- und Öffnungspolitik, die auf seiner „Medemer“-Philosophie[13] basierte, machte ihn zu einem Hoffnungsträger. Ihm wurde nicht nur zugetraut, das autoritäre Regime zu reformieren, sondern insbesondere auch die stark nach ethnischen Gesichtspunkten fragmentierte und polarisierte Gesellschaft zu versöhnen. Der junge Ministerpräsident wurde jedoch nicht nur innerhalb Äthiopien gefeiert. Auch das Ausland war vom Eifer und Reformtempo des neuen Ministerpräsidenten stark beeindruckt und feierte ihn euphorisch. Abiy wurde für seinen Einsatz für Frieden und internationale Zusammenarbeit und vor allem für seine Initiative zur Lösung des Grenzkonflikts mit dem äthiopischen Nachbarland Eritrea mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

Bereits in seiner ersten Antrittsrede als Ministerpräsident im äthiopischen Parlament am 2. April 2018 machte er deutlich, dass er sehr ambitionierte politische Ziele verfolgte. Interessant ist, dass er gleich zu Beginn von einer Machtübergabe“ sprach, als komme eine neue politische Kraft an die Regierung. Er dankte der EPRDF dafür, dass sie (…) by holding firmly on to its developmental path, has produced, during the years that it led our country for over two decades, fundamental changes in all sectors and has built a constitutional and federal system“.[14] Er betonte allerdings auch, dass es viele Mängel gebe, die es nun zu beheben gelte: „As much there are many achievements that have been registered, we also believe there are deficiencies that need to be tackled expeditiously. While learning from our mistakes and forging ahead, our primary focus needs to be on building a better country for all of us. The crux of the matter is to catapult our country to a higher level of development and move forward while ensuring that its unity is secured on a sustainable basis.[15]

Es ist nicht überraschend, dass der Übergang von einem der brutalsten Regime in Afrika zu einem demokratisch verfassten Rechtsstaat nicht problemlos über die Bühne gehen wird. Vor diesem Hintergrund steht der junge Ministerpräsident vor enormen gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen. Er muss mit der autoritären Vergangenheit aufräumen und glaubhaft beweisen, dass er gewillt ist, das politische System hin zu einem demokratisch legitimierten Rechtsstaat zu transformieren. Parallel hierzu muss er die regionalen Brandherde, die immer wieder aufflackern, befrieden und einen Ausgleich zwischen den konkurrierenden ethnischen Gruppen des Landes herstellen und insbesondere auch für die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit sorgen. Darüber hinaus muss er sicherstellen, dass alle vom Wirtschaftswachstum profitieren und insbesondere für die Jugend neue Arbeitsplätze schaffen.

Auch wenn Abiy ein hohes Reformtempo an den Tag legte und viele Dissidenten aus den Gefängnissen entließ oder ihnen die Rückkehr aus dem Exil erlaubte, blieb und bleibt die politische Situation des Landes nach wie vor sehr fragil und volatil. Angespannt blieb insbesondere auch das Verhältnis zur TPLF, die sich in der Zwischenzeit vollständig in die Provinz Tigray zurückgezogen und dort verbarrikadiert hatte. Die TPLF hatte ihren Machtverlust nicht verwunden und versuchte von Tigray aus nun die Reformbemühungen Abiy’s zu konterkarieren. Dies galt vor allem für seine Friedensbemühungen mit Eritrea. Obgleich sich Abiy mit der eritreischen Seite auf die Demarkation des gemeinsamen Grenzverlaufs[16] verständigt hatte, lehnte die TPLF-Führung dies strikt ab. So musste der geplante Rückzug der äthiopischen Armee von besetzten eritreischen Gebieten auf unbestimmte Zeit verschoben werden, da dieser Rückzug von der TPLF verhindert wurde.[17]

Eine wichtige Konstante in der TPLF Politik war die Annahme bzw. Drohung, dass Äthiopien ohne die autoritäre Hand der TPLF auseinanderbrechen würde. Diese Drohung wurde vor allem gegenüber der internationalen Gemeinschaft perfekt inszeniert, um sich die bedingungslose Unterstützung des Westens zu sichern. Auch gegenüber Abiy versuchte die TPLF-Führung diese Keule einzusetzen. Als deutlich wurde, dass sich Abiy immer stärker von der Politik der TPLF distanzierte und sich daranmachte, das politische System grundlegend auf den Kopf zu stellen, begann die TPLF alle tigrayischen Parlamentarier und Mitglieder der Bundesregierung zurückzuziehen. Mit dieser Maßnahme wollte die TPLF-Führung den Druck auf Abiy erhöhen und zugleich demonstrieren, dass es ohne ihre Unterstützung - vor allem im Sicherheitsbereich - schwer sein würde, die staatliche Ordnung zu gewährleisten.

Ungeachtet der Drohgebärde setze Abiy seine Reformbemühungen fort und begann zugleich Schlüsselpositionen in der Partei, Armee und bei den Sicherheitskräften neu zu besetzen. Damit beschnitt er auch alte Seilschaften der TPLF. So wurden viele prominente TPLF-Leute vor allem in der Armee und im Geheimdienst von ihren Ämtern entlassen und durch Mitglieder anderer ethnischer Gruppen ersetzt. Manche wurden gar wegen Korruption und Menschenrechtsverstößen angeklagt und anschließend zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. 

Die TPLF kritisierte das Vorgehen von Abiy’s Regierung als zu selektiv und ethnisch motiviert, da nach ihrer Auffassung nur tigrayische Amtsträger gezielt verfolgt werden würden. Exemplarisch zeigte sich dies am Beispiel des ehemaligen Geheimdienstchefs Getachew Assefa, der 2018 von Abiy aus seinem Amt entlassen wurde. Dieser wurde unmittelbar nach seiner Entlassung von der Generalstaatsanwaltschaft mit einem Haftbefehl gesucht - wegen Menschenrechtsverletzungen und weil er als Drahtzieher einer Destabilisierung des Landes identifiziert wurde. Um einer Festnahme zu entgehen, setzte er sich allerdings nach Tigray ab und konnte dort trotz eines Haftbefehls unbehelligt leben. Mehrere Aufforderungen der Zentralregierung zu seiner Auslieferung wurde von der TPLF stets ausgeschlagen, da Getachew Assefa zum engen Machtzirkel der TPLF gehörte. 

Den wohl weitreichendsten Reformschritt leitete Abiy 2019 ein, der zugleich das Ende der EPRDF als Einheitspartei besiegelte. Die einzelnen, ethnisch definierten Parteien der EPRDF beschlossen im November 2019 ihre Selbstauflösung zugunsten einer gemeinsamen neuen Prosperity Party“ (PP). Die formelle Selbstauflösung der EPRDF durch die für Parteienzulassung zuständige Wahlkommission erfolgte im Februar 2020. Der Beschluss war selbst in den eigenen Reihen äußerst kontrovers. Wichtige Weggefährten Abiys wie sein ehemaliger OPDO-Chef und ehemaliger Verteidigungsminister Lemma Megersa sprachen sich dagegen aus. So bezeichnete Lemma die Parteineugründung für verfrüht“ und die falsche Priorität für eine Zeit des demokratischen Übergangs.[18] Wie nicht anders zu erwarten war, lehnte die TPLF von Anfang eine Auflösung der EPRDF ab und löste sich als einzige der bisherigen EPRDF-Bestandteile nicht auf.

Der Beschluss der Abiy Regierung, die für August 2020 angesetzten Parlamentswahlen auf Grund der Corona-Pandemie zu verschieben[19], war eine weitere Maßnahme, die den endgültigen Bruch der TPLF mit der äthiopischen Politik beschleunigte. Die TPLF lehnte die Verschiebung der nationalen Wahlen nicht nur ab, sondern erklärte zugleich, dass der Beschluss verfassungswidrig sei. Des Weiteren kündigte sie an, dass sie in Tigray wie geplant die Regionalwahlen durchführen werde. Auf die Ankündigung der TPLF reagierte die Zentralregierung harsch und erklärte seinerseits die geplanten Regionalwahlen für illegal. Ende Juli 2020 bekräftigte das Bundeshaus (House of Federation) in einem Schreiben an die Regionalregierung von Tigray, dass die geplante Durchführung der Regionalwahlen ein eklatanter Verstoß gegen die Verfassung sei und dementsprechend die neugewählte Regionalverwaltung keine Legitimation habe. Bereits im Mai 2020 hatte Abiy unmissverständlich erklärt: „Unconstitutional attempts to undertake illegal elections will result in harm to the country and the people. Therefore, the government will be forced to take any measures to assure the safety of the people and the country.“[20]

Unbeeindruckt von diesen Drohungen hielt die TPLF im September 2020 die Regionalwahlen in Tigray ab. Erwartungsgemäß ging die TPLF aus der Wahl als Siegerin hervor. Nach eigenen Angaben erhielt sie 98,2 % der Stimmen und gewann damit alle 152 Sitze im Regionalparlament. Angesichts dieses Ergebnisses handelt es sich bei der Wahl wohl kaum um eine freie und faire demokratische Wahl. Denn neben der TPLF waren nur kleinere Splitterparteien zugelassen, die kaum eine echte Chance gegen die omnipräsente Dominanz der TPLF hatten. Die TPLF kontrollierte in Tigray neben der Verwaltung und den Sicherheitsbehörden auch das öffentliche Leben. Insofern war die Wahl für die TPLF von Anfang lediglich eine Inszenierung, mit der sie ihre (regionale) Übermacht gegenüber der Zentralregierung demonstrieren wollte. 

Auch nach der Regionalwahl drehte sich die Eskalationsspirale zwischen den verfeindeten Lagern weiter. Wie bereits mehrfach angekündigt, erklärte die Zentralregierung die Regionalwahl für illegal und lehnte folglich die Anerkennung der Regionalregierung ab. Zudem beschloss das Parlament alle finanziellen Zuwendungen nach Tigray zu stoppen. Anfang November eskalierten schließlich die verbalen Auseinandersetzungen zu einem offenen militärischen Konflikt.

Es begann alles damit, dass TPLF Kampfeinheiten in der Nacht vom 3. auf den 4. November 2020 Militärbasen des Northern Commands der äthiopischen Streitkräfte in Dansha, Makele sowie an der eritreisch-äthiopischen Grenze angriffen und diese unter ihre Kontrolle brachten. Wenige Tage zuvor hatte die TPLF-Führung den Versuch von Abiy, den Oberkommandierenden des Northern Commands auszutauschen, konterkariert, mit der Begründung, dass die Zentralregierung hierzu keine rechtlichen Befugnisse mehr habe. Der von Abiy entsendete General, der in Makele seinen neuen Posten einnehmen sollte, wurde am Flughafen barsch zurückgewiesen.

Während der Militäroperation wurden wohl tausende Soldaten, die sich geweigert hatten zu ergeben, umgebracht oder in Gefangenschaft genommen.[21] Zudem brachte die TPLF unzählige schwere Waffen wie Panzer, Artillerie und Raketenwerfer unter ihre Kontrolle, auf die sie es u.a. von Anfang an abgesehen hatte. Die TPLF-Führung legitimierte die Angriffe auf das Northern Command als eine „präventive Abwehrmaßnahme“. In einem Interview mit Dimtsi Woyane TV (dem tigrayischen Fernsehen) bestätigte Dr. Debretsion - Abiy’s TPLF-Konkurrent um das Amt des Ministerpräsidenten -, dass die TPLF gegen das Northern Command einen Präventivschlag durchgeführt habe, um einer bevorstehenden Offensive durch die Zentralregierung zuvorzukommen.[22] Auch der Sprecher der TPLF, Sekuture Getachew, wiederholte in einem Fernsehinterview, dass der erste militärische Schlag tatsächlich von der TPLF-Armee ausging. Er verglich dabei die Strategie, die die TPLF-Führung anwendete, mit dem Vorgehen Israels, in dem er behauptete: Israel made surprise attacks against these forces and demobilized the enemy troops to successfully defend itself. It is a similar strategy that was used now.“[23]

Die Reaktion der Zentralregierung ließ nicht lange auf sich warten. Noch am selben Tag setzte Abiy die äthiopischen Streitkräfte in Marsch. In einem Statement erklärte er, dass die TPLF-Führung mit dem Angriff die letzte rote Linie überschritten hätte und die Zentralregierung daher gezwungen sei, hierauf mit militärischen Mitteln zu reagieren. Die äthiopische Armee und mit ihr verbündete Spezialkräfte und Milizen der Amhara-Region wurden damit beauftragt, „to restore the rule of law & the constitutional order, and to safeguard the rights of Ethiopians to lead a peaceful life wherever they are in the country“.[24] Zugleich wurde die TPLF zu einer »terroristischen Junta« erklärt, mit der es nichts zu verhandeln gebe. Die Regierung ließ 96 Haftbefehle gegen hohe TPLF-Funktionäre und 32 Generäle ausstellen. Darüber hinaus wurden die Konten von mehreren großen TPLF-nahen Firmen eingefroren. Ebenso wurde Tigray-weit das Internet und das Mobilfunknetz abgeschaltet.

Die Geschwindigkeit, mit der sich der Konflikt in wenigen Stunden und Tagen zu einem offenen Krieg entwickelte, zeigte, dass die Eskalation keinesfalls überraschend kam. Die militärische Konfrontation scheint auf beiden Seiten von langer Hand geplant worden zu sein. Die Ereignisse um den 3. und 4. November 2021 waren demnach nur Katalysator für eine militärische Auseinandersetzung, die von beiden Seiten als unvermeidlich betrachtet worden ist. Seit 2018 hatten sich die Fronten zwischen beiden Lagern so verhärtet, dass sie jede Bereitschaft zu einem Konsens verloren hatten. Für diese These spricht, dass beide Seiten von Anfang alles auf die militärische Karte gesetzt haben.

Gleichwohl muss man hier betonen, dass sich die TPLF-Führung militärisch völlig verzettelt hat. Ihre Strategie des Blitzkrieges, mit dem sie versuchte, das Northern Command außer Gefecht zu setzen, hat ihr nicht die erhoffte militärische Oberhand gebracht. Im Gegenteil: Abiy gelang es schnell, die äthiopische Armee und die Streitkräfte der Amhara-Region für einen militärischen Gegenschlag zu mobilisieren. Mit Unterstützung der Luftwaffe konnten die Regierungstruppen innerhalb weniger Wochen ganz Tigray erobern. Angesichts der militärischen Übermacht musste sich die TPLF immer mehr in entlegenen Gebiete zurückziehen. Insbesondere der Verlust der Gebiete im westlichen Teil des Landes, das an Sudan grenzt, wog für die TPLF schwer. Denn dadurch wurde die TPLF völlig von der Außenwelt abgeschnitten. Zugleich wurden wichtige ihrer Führungskader wie Sebhat Nega - Gründungsvater der TPLF -, Abay Woldu, Keria Ibrahim und Abadi Zemo etc. festgenommen und nach Addis Abeba gebracht. Weitere Mitglieder des TPLF-Politbüros wie Seyoum Mesfin - langjähriger äthiopischer Außenminister unter Meles Zenawi -, Abay Tsehaye sowie Asmelash Woldeselassie wurden nach Angaben der äthiopischen Armee bei Kämpfen getötet.

Noch verheerender wirken sich die Kampfhandlungen auf die Zivilbevölkerung aus. Bereits mit dem Vormarsch der äthiopischen Armee in West-Tigray flohen über 50.000 Menschen in den Sudan. Zudem verschlechterte sich angesichts der Kampfhandlungen die humanitäre Situation der Menschen zusehend. Schon vor Beginn des Krieges waren über 1,6 Mio. der tigrayischen Bevölkerung auf Lebensmittelhilfe angewiesen. Seit Ausbruch des Konflikts hat sich die Situation allerdings dramatisch verschlechtert. Heute sind nach Angaben der Vereinten Nationen von den 6 Millionen Einwohner Tigrays rund 4,5 Millionen auf Lebensmittelhilfe internationaler Organisationen angewiesen. Hier droht eine humanitäre Katastrophe, wenn den Menschen nicht schnell und unbürokratisch geholfen wird. Daher muss mehr Druck auf alle Konfliktparteien ausgeübt werden, damit diese den internationalen Hilfsorganisationen einen freien und sicheren Zugang zu den Menschen gewährleisten.

Regionale Implikationen des äthiopischen Bürgerkriegs: Droht hier ein regionaler Flächenbrand?

Das Verhältnis zwischen TPLF und der eritreischen Regierung war spätestens mit dem Krieg zwischen den beiden Ländern von 1998 bis 2000 völlig zerrissen. Obgleich beide Länder im Jahre 2000 ein Friedensabkommen unterzeichneten, blieben die Feindseligkeiten weiterhin bestehen. Beide Seiten standen sich bis an die Zähne bewaffnet, verbittert und unversöhnlich in einem kalten Krieg gegenüber. Zugleich unternahmen beide Seiten in den letzten 20 Jahren alles Mögliche, um sich gegenseitig zu destabilisieren und schwächen, indem sie ihre jeweilige Opposition politisch und militärisch unterstützen. Eine Aussöhnung und eine gemeinsame politische Koexistenz kamen für beide Seiten nicht mehr in Frage. Vielmehr setzten sie alle Karten auf eine militärische Lösung. Jeder wollte den anderen vernichten. Entsprechend haben beide Seiten in den letzten 20 Jahren alles diesem Ziel untergeordnet.

Für die eritreische Führung war die Wahl von Abiy zum äthiopischen Ministerpräsidenten ein willkommener Segen. Gleichwohl gibt es Indizien, die vermuten lassen, dass die politischen Umwälzungen in Äthiopien für die eritreische Führung keinesfalls überraschend kamen. Bereits im Januar 2018 – d.h. rund drei Monate vor der Wahl von Abiy zum äthiopischen Ministerpräsidenten – hatte der eritreische Präsident Isayas Afewerki der TPLF in einem Interview mit dem eritreischen Staatsfernsehen prophezeit, dass „das Spiel zu Ende sei“. Bei der feierlichen Unterzeichnung des Friedensabkommens zwischen beiden Ländern in Asmara im Juli 2018, sicherte der eritreischen Präsident seinem äthiopischen Kollegen zudem seine uneingeschränkte Unterstützung und Solidarität zu. In seiner Rede erklärte er, dass die eritreische Regierung auf seiner Seite stehe und ihm bei der Bewältigung der innenpolitischen Herausforderungen mit allen Kräften unterstützen werde. Die Rede des eritreischen Präsidenten Isayas Afewerki stieß insbesondere in der in sich sehr zerstrittenen eritreischen Opposition auf Kritik und war Anlass für wilde Spekulationen. Zum Teil wurde dem Präsidenten unterstellt, einen Ausverkauf des Landes an Äthiopien zu betreiben.[25]

Die TPLF-Führung beäugte von Anfang an die Annäherungen zwischen beiden Ländern mit großer Distanz und Ablehnung. Denn sie sah in dem sich anbahnenden Aussöhnungsprozess eine Allianz, die in erster Linie gegen sie gerichtet war. Als Anfang November die militärischen Kämpfe zwischen der äthiopischen Regierung und der TPLF entflammten, war zumindest jedem klar, auf welche Seite sich die eritreische Regierung schlagen würde. Es war zu erwarten, dass sie nicht tatenlos zusehen würde, wenn die TPLF das Zepter der Macht in Äthiopien wieder übernehmen würde. In einem Interview mit dem Staatsfernseher hatte der eritreische Präsident Monate zuvor unmissverständlich erklärt, dass Eritrea nicht untätig zusehen werde, dass Äthiopien in Chaos versinke. Er begründete seine Entschlossenheit für eine mögliche Intervention damit, dass es zu Eritreas nationalem Interesse gehöre, dass die begonnenen politischen Reformen in Äthiopien erfolgreich fortgeführt würden.

Als Einheiten des Northern Commands, die an der eritreischen Grenze stationiert worden waren, von der TPLF angegriffen wurden, flohen diese Richtung Eritrea, um einer völligen Vernichtung zu entgehen. Viele verwundete äthiopischen Soldaten fanden in dieser Zeit Zuflucht in Eritrea und bekamen dort erste medizinische Versorgung. Zugleich half Eritrea mit, die stark angeschlagenen äthiopischen Einheiten wieder zu reorganisieren und mit neuen Waffen auszustatten, damit diese einen Gegenangriff von Norden her gegen die TPLF-Einheiten starten konnten. Für die TPLF war Eritrea von Anfang an ein Gegner, der mit Beginn der Kampfhandlungen ins Fadenkreuz genommen worden ist. Bereits in den ersten Tagen wurden eritreische Städte daher zu Zielscheiben von Artillerieangriffen. So wurde die eritreische Hauptstadt Asmara mindestens zwölfmal mit Langstreckenraketen bombardiert.

Eritrea hat zunächst die Intervention seiner Armee in den inneräthiopischen Konflikt abgestritten. Aber als Abiy nach seinem Besuch in Asmara bekannt gab, dass er sich mit dem eritreischen Präsidenten auf den Rückzug der eritreischen Armee verständigt hatte, konnte nicht länger die Anwesenheit eritreischer Truppen in Tigray geleugnet werden. Schon mit Beginn des Krieges rankten sich zudem Vorwürfe, wonach der eritreischen Armee schwere Menschenrechtsverletzungen in Tigray zu Lasten gelegt werden. So berichteten sowohl Amnesty International als auch Human Rights Watch übereinstimmend von Massakern, die vorgeblich von eritreischen Soldaten in der Stadt Aksum begangen worden sein sollen. Obgleich sich beide Organisationen bei ihren Berichten auf Zeugen beziehen, wurden die Vorwürfe sowohl von der äthiopischen als auch der eritreischen Regierung umgehend zurückgewiesen.

Der eritreische Informationsminister bezeichnete die Anschuldigungen als „lächerlich“ und „fingiert“, da der Bericht von Amnesty International auf die Aussagen von ehemaligen Milizionären der TPLF basiere. Auch die äthiopische Regierung kommentierte den Amnesty Bericht mit Zurückhaltung und kritisierte insbesondere die Methodologie. Gleichwohl wurde jedoch betonte, dass man die Anschuldigungen sehr ernst nehme. Die äthiopische Regierung kündigte zugleich an, die Vorgänge in Aksum gemeinsam mit internationalen Partnern zu untersuchen.

Es ist nach wie vor nicht klar, ob sich die eritreische Armee in der Zwischenzeit aus Tigray zurückgezogen hat. Die äthiopische Regierung hat zwar verkündet, dass Eritrea mit seinem Truppenabzug begonnen habe, aber unabhängig lässt sich dies aus der Ferne schwer verifizieren. Die entscheidende Frage ist auch, wohin sich die eritreischen Truppen tatsächlich zurückziehen werden. Es ist davon auszugehen, dass Eritrea nicht bereit sein wird, sich von den Gebieten, die ihm von der Grenzkommission zugesprochen worden sind, zurückzuziehen. Seitens der äthiopischen Regierung sollte es deswegen keine Probleme geben; zumal sie sich im Friedensabkommen vom Juli 2018 dazu verpflichtet hatte, den Beschluss der Grenzkommission ohne vor Bedingungen umzusetzen. Die zentrale Frage wird eher sein, ob diese Entscheidung von der tigrayischen Bevölkerung akzeptiert wird, da die TPLF-Führung dies nach wie vor ablehnt.

Auch muss dabei berücksichtigt werden, dass die Übergabe der Gebiete an Eritrea für die dort lebende Bevölkerung erhebliche Konsequenzen haben wird. Seit 2000 hatte die tigrayische Regionalverwaltung insbesondere in der Region um Badme viele Menschen aus anderen Teilen Tigrays angesiedelt, auch mit dem Ziel hier vollendete Tatsachen zu schaffen. Diese Menschen mussten in den letzten Monaten angesichts der vorrückenden eritreischen Armee, ihr Hab und Gut zurücklassen und sind nun zu Binnenflüchtlingen geworden. Die äthiopische Regierung und die neue von der Zentralregierung eingesetzte tigrayische Regionalverwaltung müssen dieses Problem dringend angehen und für die betroffenen Menschen eine langfristige Lösung finden. Auch muss das Thema mit der eritreischen Seite stärker erörtert werden, um weiteren menschlichen Verwerfungen vorzubeugen und die Demarkierung des gemeinsamen Grenzverlaufs besser zu koordinieren. Es braucht hier auch ein stärkeres Engagement der internationalen Gemeinschaft, um die humanitäre Situation zu lindern und langfristig die Wiederansiedlung der Binnenflüchtlinge in anderen Regionen mit finanziellen Mitteln zu unterstützen.   

 Zeitgleich mit Beginn des inneräthiopischen Konflikts, flammten auch Grenzstreitigkeiten zwischen Äthiopien und Sudan auf. Zwischen beiden Ländern existiert schon länger eine Kontroverse bezüglich des gemeinsamen Grenzlaufs. Für viele Beobachter kamen dennoch die militärischen Auseinandersetzungen völlig überraschend. Sudan befindet sich nach dem Sturz des Regimes von Diktator Omar al-Baschir 2019 in einem Transformationsprozess, der sehr volatil ist. Vor diesem Hintergrund verwundert es sehr, dass die neuen Machthaber in Khartum partout in der schwierigen Situation mit den Säbeln rasseln. Sudan geht es hierbei nicht nur um die Klärung des gemeinsamen Grenzlaufs. Das scheint nur ein vorgeschobener Grund zu sein. Einige einflussreiche Teile innerhalb der sudanischen Regierung wollen die geschwächte Situation Äthiopiens wohl für ihre Vorteile nutzen. Es stellt sich auch der Eindruck, dass hinter dem sudanesischen Säbelrasseln vordergründig Ägypten steht.

Ägypten und Sudan lehnen den von der äthiopischen Regierung betriebenen Bau des Grand Ethiopian Renaissance Dam am Blauen Nil in der abgelegenen west-äthiopischen Region Benishangul-Gumuz und etwa 10 Kilometer östlich der sudanesischen Grenze, strikt ab. Ägypten sieht durch den Bau des Staudamms seine nationalen Interessen tangiert und hat sich daher zum Ziel gesetzt, die Fertigstellung des Projektes mit allen Mitteln zu torpedieren. Dass Äthiopien das Recht hat, einen Staudamm auf seinem Territorium zu bauen, wird von niemandem bestritten. Der Konflikt entzündet sich eher in der Frage, ob Ägypten und dem Sudan ein Mitspracherecht zusteht, was die von Äthiopien aufgestauten Wassermengen angeht. Dabei geht es zunächst vordergründig um den Zeitraum, in dem die Talsperre gefüllt werden soll. Je kürzer der Zeitraum ist, desto mehr Wasser muss in dieser Zeit in Äthiopien aufgestaut werden. Darin sehen Sudan und Ägypten ein Problem. Sie befürchten, dass dies erhebliche Konsequenzen für sie habe, da dadurch für sie weniger Nil-Wasser übrigbleibt. 

Aus diesem Grund haben beide Länder das Interesse, den Zeitraum möglichst weit zu strecken. Äthiopien hingegen will ausschließlich alleine über diese Frage entscheiden und möchte eine Füllung innerhalb von nur fünf bis sieben Jahren anstreben, damit sich die Kosten des Staudamms schnell amortisieren und schon in naher Zukunft für möglichst viele Menschen Strom erzeugt werden kann.[26] Sowohl Ägypten als auch der Sudan verlangen von der äthiopischen Regierung eine vertragliche Regelung der Füllmengen, die zwischen den Ländern ausgehandelt und verbrieft werden sollen. Die äthiopische Regierung lehnt dies allerdings strikt ab. In einer Stellungnahme des Außenministeriums heißt es dazu: „Die Positionen, die das Auffüllen des Staudamms vor dem Abschluss eines Abkommens anfechten, haben keine rechtliche Grundlage und verstoßen gegen das inhärente Recht Äthiopiens, seine natürlichen Ressourcen zu nutzen.“[27]

Vor diesem Hintergrund kam der inneräthiopische Konflikt für Ägypten zur richtigen Zeit, weshalb nun die ägyptische Regierung mit Hilfe des Sudans daraus Kapital zu schlagen versucht. Das Vorgehen ist hierbei sehr simpel: Mit einer Eröffnung eines neuen Kriegsschauplatzes versuchen sowohl der Sudan als auch Ägypten die vermeintlich geschwächte Situation Äthiopiens auszunutzen, um Äthiopien in der Frage des Staudamms unter Druck zu setzen. Bisher sind alle regionalen und internationalen Bemühungen zwischen den drei Konfliktparteien, eine friedliche Beilegung ihrer Differenzen zu vermitteln, gescheitert. Von der Afrikanischen Union (AU) initiierte trilaterale Gespräche, die Anfang April in Kongos Hauptstadt Kinshasa stattfanden, sind erfolglos zu Ende gegangen. Darum fordern Ägypten und der Sudan, dass die UNO, die USA oder die EU vermitteln sollten. Doch dies wird von der äthiopischen Regierung abgelehnt, weil sie sich keinem internationalen Druck beugen möchte. Daher versuchen Ägypten und der Sudan, das Thema vor den UN-Sicherheitsrat zu bringen. Sie fordern, dass der Sicherheitsrat durch eine Resolution Äthiopien untersagen soll, ohne eine Vereinbarung mit den beiden Staaten die Talsperre zu füllen. Bisher ist allerdings der UN-Sicherheitsrat nicht bereit, das Thema auf seine Agenda zu setzen.

Es besteht daher die Gefahr, dass die Fronten sich weiterhin verhärten und aus den Grenzscharmützeln ein regionaler Flächenbrand wird, der die ganze Region in seinen Strudel mitzieht. Hier muss sich die internationale Gemeinschaft stärker engagieren, um eine Eskalation und Verschärfung des Konflikts präventiv vorzubeugen. Insbesondere muss auf den Sudan und Ägypten Druck ausgeübt werden, kriegerische Handlungen zu unterlassen und gemeinsam mit Äthiopien bezüglich des Nilwassers nach einer friedlichen Lösung zu suchen. Es muss zugleich den beiden Ländern auch klargemacht werden, dass der Damm ein Fakt ist, der sich nicht umkehren lässt. 

Fazit

Der Konflikt in Tigray dauert nun sieben Monate an. Die Annahme beider Konfliktparteien, den Konflikt nach einer kurzen Entscheidungsschlacht für sich entscheiden zu können, hat sich als Trugschluss erwiesen. Die TPLF hat sich mit ihrer Strategie des „Blitzkrieges“ in eine ausweglose militärische Lage manövriert. Abgeschnitten von der Außenwelt, wurde sie in einem Zwei-Fronten-Krieg gegen die äthiopische Regierung und eritreisches Militär völlig aufgerieben und hat zudem ihre Vorherrschaft in Tigray verloren. Dennoch will die stark dezimierte Führungsriege der TPLF den Kampf nicht aufgeben. Sie hat angekündigt, den Kampf in einer Art Guerillakrieg fortführen zu wollen. Die TPLF mag zwar noch eine breite Unterstützung in der tigrayischen Bevölkerung haben, dennoch ist es unwahrscheinlich, dass ein Guerillakrieg, wie er in den 1970er und 1980er erfolgreich geführt wurde, heute erfolgversprechend ist. In den 1970er und 1980er Jahren waren die Vorzeichen ganz anders: Zum einen hatte die TPLF die Unterstützung durch die eritreische Befreiungsbewegung. Zum anderen hatte sie über den Sudan einen Zugang zur Außenwelt. Hierüber konnte sie ihren Nachschub mit Waffen und Nahrungsmittel für ihre Kämpfer sicherstellen.

Heute hat die TPLF beides nicht. Die eritreische Führung ist ein erklärter Todfeind und kann es kaum abwarten, sich der TPLF zu entledigen. Die sudanesische Grenze ist durch die äthiopische Armee versperrt. Vor diesem Hintergrund ist ein Guerillakrieg auf Dauer kaum aufrechtzuerhalten; denn ohne Nachschub und Unterstützung von außen ist es nur eine Frage der Zeit, dass der Widerstand irgendwann zusammenbricht. Zudem muss bedacht werden, dass Tigray innerhalb des äthiopischen Staatsverbandes eine periphere Region darstellt. Es ist weit von den politischen Zentren des Landes entfernt und zudem hat es im wirtschaftlichen Gefüge des Landes keine entscheidende Bedeutung. Insofern hätte eine längere Dauer des Konfliktes keine schwerwiegende Auswirkung auf das wirtschaftliche und politische Leben des Landes. 

Auch die Regierung Abiy muss nach sieben Monaten feststellen, dass der propagierte schnelle militärische Sieg lange auf sich warten lässt. Die äthiopische Armee konnte zwar innerhalb von drei Wochen die TPLF aus allen großen Städten Tigrays verjagen und die abtrünnige Provinz unter Kontrolle bringen. Gleichwohl hält der Widerstand immer noch an. Die TPLF ist zwar empfindlich geschwächt worden, aber militärisch noch nicht ganz besiegt. Gleichzeitig wächst zunehmend der internationale Druck auf Premierminister Abiy, den Konflikt friedlich beizulegen. Insbesondere die USA und die EU üben hier Druck aus. So haben sowohl die US-Regierung als auch die EU-Kommission zugesagte Entwicklungsgelder einfrieren lassen, um den Druck auf die äthiopische Regierung zu erhöhen. Sie verlangen die sofortige Beendigung der kriegerischen Handlungen und eine Aussöhnung mit der TPLF. Noch trotzt Abiy jedem Druck. In einer Rede vor dem Parlament verbat sich Abiy jede Einmischung aus dem Ausland: „If you want to be friends with us, please understand us first. We have many years of experience, even more than most countries. We may be poor but we are not a country that will negotiate our sovereignty. Threatening Ethiopia for coins will not work.“[28]

Die äthiopische Regierung darf nicht den Fehler machen, den Konflikt in Tigray auf die leichte Schulter zu nehmen. Auch wenn die TPLF militärisch weitestgehend geschlagen sein sollte, wird es weiterhin eine große Herausforderung bleiben, eine dauerhafte friedliche Ordnung in der Region herzustellen. Krieg zu gewinnen ist eine Sache, den Frieden dauerhaft zu erhalten eine andere. Dies kann allerdings nur mit Unterstützung der tigrayischen Bevölkerung gelingen. Dafür ist es sehr wichtig, die Loyalität und das Herz der Bevölkerung zu gewinnen. Es muss unterbunden werden, dass die Zivilbevölkerung für die Fehltritte der politischen Führung haftbar gemacht wird. Eine politische, wirtschaftliche und soziale Marginalisierung von Tigray wie in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren darf sich nicht wiederholen. Denn das würde der TPLF in die Hände spielen und eine dauerhafte Befriedung konterkarieren.

Vor diesem Hintergrund ist der Beschluss der äthiopischen Regierung, die TPLF als eine terroristische Organisation einzustufen, nicht nachvollziehbar. Diese Maßnahme kriminalisiert die einfachen Mitglieder der TPLF. Die Regierung Abiy verkennt dabei, dass die TPLF eine Massenbewegung ist, die in Tigray historisch gewachsen und gesellschaftlich verankert ist. Die Mehrheit der einfachen TPLF-Mitglieder haben sich nichts zuschulden kommen lassen. Daher ist es kontraproduktiv, sie alle für die Fehltritte der Führungsebene verantwortlich zu machen und zu kriminalisieren. So wird die äthiopische Regierung nicht das Vertrauen und die Loyalität der Bevölkerung gewinnen können. Vielmehr ist davon auszugehen, dass diese Entscheidung in der tigrayischen Bevölkerung das Gegenteil auslösen wird. Es wird eher die Wagenburgmentalität verstärken und dazu führen, dass sich die Bevölkerung noch stärker mit der TPLF-Führung solidarisiert.

Zugleich ist der Konflikt eine schwere Hypothek für den anstehenden Demokratisierungsprozess des Staates insgesamt. Für die Medemer-Philosophie von Abiy, die stark auf Versöhnung und Einheit ausgerichtet ist, bedeutet der Tigray-Konflikt ein herber Rückschlag. Seine Medemer-Politik ist zunächst in Tigray gescheitert, weil sie insbesondere nicht in der Lage war, die bestehenden Differenzen auszugleichen. Inwiefern der gewalttätige Konflikt tatsächlich seine ambitionierte Reformpolitik im ganzen Land beeinträchtigen wird, wird sich im Nachgang der für Juni 2021 angesetzten Nationalwahlen zeigen. Noch ist es zu früh, um hier eine abschließende Schlussfolgerung abgeben zu können.


Fußnoten

[1] Die EPRDF war eine Allianz von vier Parteien, der Demokratischen Organisation des Oromovolkes (OPDO) in Oromia, der National-Demokratischen Bewegung der Amharen (ANDM) in Amhara, der Demokratischen Front der Südäthiopischen Völker (SEPDF) in der Region der südlichen Nationen, Nationalitäten und Völker und der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF).

[2] Vgl. Habte, Mussie: Der äthiopisch-eritreische Krieg 1998-2000: Ursachen, Konfliktstrukturen und internationale Lösungsversuche, Marburg 2007.

[3] Vgl. Habte, Mussie: Der äthiopisch-eritreische Krieg 1998-2000: Ursachen, Konfliktstrukturen und internationale Lösungsversuche, Marburg 2007.

[4] So entstanden neun ethnisch definierte Regionalstaaten – Tigray, Afar, Amhara, Oromia, Somali, Benishangul-Gumuz, Gambela, Harar und die Region der südlichen Nationen, Nationalitäten und Völker (SNNP) – sowie die beiden Stadtstaaten Addis Abeba und Dire Dawa (siehe Karte).

[5] Vgl. Emminghaus, Christoph: Äthiopiens ethnoregionaler Föderalismus. Hamburg 1997

[6] Hailemariam Desalegn gehört der kleinen Volksgruppe der Wolaytta aus dem Grenzgebiet zu Kenia an.

[7] Von der internationalen Gemeinschaft gab es hierzu kaum Reaktionen. Vielmehr wurde das undemokratische Gebaren und die zunehmenden Menschenrechtsverletzungen billigend hingenommen. Auch unter Hailemariam Desalegn galt Äthiopien als verlässlicher Partner des Westens, weshalb man weiterhin stillschweigend die Augen zudrückte. 

[8] Die Proteste um die Hauptstadt Addis Abeba entzündeten sich, nach dem die Regierung große Bauprojekte zur Erweiterung der Hauptstadt Addis Abeba angekündigt hatte. Für die Durchführung des Masterplans sollten große Gebiete enteignet werden. Daraufhin errichteten die Protestierenden Straßensperren und zündeten mehrere Autos an. Auch wurden mehrere Fabriken sowohl in den Oromo-Gebieten als auch in der Region Amhara niedergebrannt. Zudem blieben viele Straßen, die in die Hauptstadt Addis Abeba führten, von Demonstranten blockiert.

[9] https://www.hrw.org/news/2016/10/08/qa-recent-events-and-deaths-irreecha-festival-ethiopia#Q2

[10] Abiy Ahmed schloss sich mit 15 Jahren der Oromo People’s Democratic Organisation (OPDO) an, die sich innerhalb EPRDF für die Interessen des Oromo-Volks einsetzte. Nach dem Sturz des Mengistu-Regimes trat er 1993 der äthiopischen Armee bei, wo er eine technische Ausbildung erhielt und in Fernmeldeeinheiten eingesetzt wurde. In der Armee stieg er in die Offiziersränge auf. Abiy fungierte zwischen 2007 und 2010 als stellvertretender Direktor der Information Network Security Agency (INSA), an deren Aufbau er beteiligt war. Die Behörde überwacht die gesamte Telekommunikation Äthiopiens und wurde von Journalisten als Instrument der Regierung zur Unterdrückung oppositioneller Kräfte bewertet. Bei den Parlamentswahlen 2010 errang Abiy ein Abgeordnetenmandat für die OPDO im Unterhaus, während sich die EPRDF fast alle Parlamentssitze sichern konnte; fünf Jahre später gelang ihm die Wiederwahl. 2015 bekleidete Abiy für ein Jahr das Amt des Wissenschaftsministers unter Ministerpräsident Hailemariam Desalegn. Nach seinem Rücktritt kümmerte sich der als junger Modernisierer gepriesene Abiy in verschiedenen Positionen um die regionale Entwicklung seiner Heimatregion und stieg 2017 zum Generalsekretär der OPDO auf. Frage: Warum mal die Abk. OPDO und mal OPDO?

[11] Lemma Megersa war nicht Mitglied des Nationalparlaments. Daher wurden ihm kaum Chancen gerechnet, zum Ministerpräsidenten Äthiopiens gewählt zu werden. Nach der äthiopischen Verfassung kann nur jemand Ministerpräsident werden, wenn er auch Mitglied des Nationalparlaments ist. Daher musste Lemma Megersa, der insbesondere bei den Oromo sehr populär war, seinen Platz für Ahmed Abiy räumen - was ein kluger Schachzug der OPDO war. Am 22. Februar 2018 rief die OPDO zu einer außerplanmäßigen Präsidiumssitzung, bei der Ahmed Abiy, der Mitglied des Nationalparlaments war, anschließend zum Parteivorsitzenden gewählt worden ist.

[12] BBC News, Seven people who could be Ethiopia's next leader, 16 March 2018. Retrieved 11 October 2019.

[13] Abiy fasste sein politisches Programm 2019 in einem Buch mit dem Titel „Medemer“ (übersetzt: gemeinsam, Addieren bzw. Harmonie - jedoch ohne Gleichmacherei; es heißt ein Team zu bilden, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen) zusammen. Seine Kernbotschaften sind: Demokratisierung, Versöhnung, Stärkung der Bürgerrechte, der Zivilgesellschaft und der Frauen, Transformation des bisherigen Ethno-Föderalismus in einen Panäthiopismus, Liberalisierung der Wirtschaft, Unterstützung kleiner und mittlerer Unternehmen, Investitionen in Bildung, Stimulation von Öffentlich-Privaten Partnerschaften, Erleichterung ausländischer Investitionen sowie regionale Integration und Abbau von Spannungen mit Nachbarstaaten.

[14] Vgl. Full English Transcript of Ethiopian Prime Minister Abiy Ahmed’s Inaugural Address: https://www.opride.com/2018/04/03/english-partial-transcript-of-ethiopian-prime-minister-abiy-ahmeds-inaugural-address/

[15] Vgl. Full English Transcript of Ethiopian Prime Minister Abiy Ahmed’s Inaugural Address, https://www.opride.com/2018/04/03/english-partial-transcript-of-ethiopian-prime-minister-abiy-ahmeds-inaugural-address/

[16] Der gemeinsame Grenzverlauf sollte demnach auf der Grundlage des Beschlusses der unabhängigen äthiopisch-eritreischen Grenzkommission erfolgen. Die Grenzkommission wurde seinerseits von den Vereinten Nationen zur Festlegung und Demarkierung des Grenzverlaufs eingesetzt. Die Grenzkommission hatte bereits 2002 ihren Schiedsspruch vorgelegt. Allerdings konnte die Grenzkommission auf Grund der ablehnenden Haltung der äthiopischen Regierung den Grenzverlauf nicht, wie im Friedensabkommen von Algier festgehalten, demarkieren.

[17] Der Rückzug musste in letzter Minute abgebrochen werden, weil die Bevölkerung heftig dagegen protestierte. Viele Menschen legten sich auf die Straße und errichteten so eine Straßenblockade, was die Armee daran hinderte, ihre schweren Geräte ins Landesinnere zu verlegen.

[18] Vgl. Dawit Endeshaw, Lemma Breaks Silence, 7.12.2019, http://www.thereporterethiopia.com/article/lemma-breaks-silence

[19] Im März 2020 empfahl die Nationale Wahlkommission, die nationalen Wahlen aufgrund der Corona-Pandemie zu verschieben.

[20] Prime Minister Abiy Ahmed: “We are building a constitutional democracy“, Ethiopia Insight, 14 May 2020; https://www.ethiopia-insight.com/2020/05/14/prime-minister-abiy-ahmed-we-are-building-a-constitutional-democracy/

[21] Es wird davon ausgegangen, dass bei den Kampfhandlungen über 8000 äthiopische Soldaten ums Leben kamen. Es gibt danach unbestätigte Berichte, wonach die Opfer hauptsächlich nicht tigrayische Mitglieder der äthiopischen Armee seien.

[22] Dr. Debretsion erklärte das militärische Vorgehen wie folgt: „Our successful operation on the Northern Command allowed us to minimize the debilitating attack planned by the invading enemy forces“. Vgl.: https://eritreahub.org/dr-debretsion-gebremichaels-statement-30-january-2021

[23] Top Official of TPLF Admits Attacking Northern Command: https://www.msn.com/en-xl/news/other/top-official-of-tplf-admits-attacking-northern-command/ar-BB1b10pP

[24] Prime Minister H.E. Dr. Abiy Ahmed, Twitter.com vom 06. November 2020

[25] So wurde gemutmaßt, dass der Präsident Eritrea mit Äthiopien wiedervereinigen wolle. Anlass hierfür gab insbesondere die Einlassung Isayas, dass Eritrea durch den Krieg mit Äthiopien nichts verloren habe (Tigrinya: Aykesernan). Dies wurde als Indiz dafür gesehen, dass Isayas durch seine Allianz mit Abiy und den „Amhara“ die Unabhängigkeit Eritreas gefährde.

[26] Ägyptische Wissenschaftler haben in einer Modellrechnung ausgerechnet, welche Auswirkung eine schnelle Füllung des Staudamms für das Land haben: Füllt Äthiopien den Staudamm im Lauf von 21 Jahren, dann verlöre Ägypten demnach pro Jahr fünf Prozent seines Wasseretats und 2,5 Prozent seiner landwirtschaftlichen Nutzfläche. Beschleunigt Äthiopien das Füllen auf zehn Jahre, dann wären es 14 Prozent weniger Wasser für Ägypten und ein Verlust der landwirtschaftlichen Nutzfläche von 18 Prozent. Und sollte sich Äthiopien entscheiden, den Damm so schnell wie möglich – innerhalb von drei Jahren – zu füllen, verlöre Ägypten laut der Rechnung 50 Prozent des Wassers und 67 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche.

[27] The Ministry of Foreign Affairs of Ethiopia: Press Release on the Trilateral Negotiations on the GERD, 06 APRIL 2021 Kinshasa, Democratic Republic of the Congo.

[28] Vgl. Aggrey Mutambo, Ethiopia: In Address to Parliament, Abiy Explains the Ethiopia-Tigray Conflict, 30.11.2020, https://allafrica.com/stories/202012010101.html


Literatur

Amnesty International: The Massacre in Axum, https://www.amnesty.org/download/Documents/AFR2537302021ENGLISH.PDF

Emminghaus, Christop: Äthiopiens ethnoregionaler Föderalismus. Hamburg: 1997

Endeshaw, Dawit: Lemma Breaks Silence, 7.12.2019, http://www.thereporterethiopia.com/article/lemma-breaks-silence

Full English Transcript of Ethiopian Prime Minister Abiy Ahmed’s Inaugural Address, https://www.opride.com/2018/04/03/english-partial-transcript-of-ethiopian-prime-minister-abiy-ahmeds-inaugural-address/

Habte, Mussie: Der äthiopisch-eritreische Krieg 1998-2000: Ursachen, Konfliktstrukturen 

und internationale Lösungsversuche, Marburg, 2007.

Human Rights Watch: Ethiopia: Eritrean Forces Massacre Tigray Civilians, UN Should Urgently Investigate Atrocities by All Parties, March 5, 2021 4:39PM EST | Report

International Crises Group: Finding a Path to Peace in Ethiopia’s Tigray Region, Briefing No. 167/Africa, 11 February 2021, https://www.crisisgroup.org/africa/horn-africa/ethiopia/167-finding-path-peace-ethiopias-tigray-region

International Crises Group: Steering Ethiopia’s Tigray Crisis Away from Conflict, Briefing 

No. 162 / Africa, 30 October 2020, https://www.crisisgroup.org/africa/horn-africa/ethiopia/b162-steering-ethiopias-tigray-crisis-away-conflict

International Crises Group: Managing Ethiopia’s Unsettled Transition, Report No. 269/Africa, 21 February 2019, https://www.crisisgroup.org/africa/horn-africa/ethiopia/269-managing-ethiopias-unsettled-transition

Mutambo, Aggrey: Ethiopia: In Address to Parliament, Abiy Explains the Ethiopia-Tigray Conflict, 30.11.2020, https://allafrica.com/stories/202012010101.html


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