Die Italienisierung von Einheimischen: Bildungs- und Schulsystem unter italienischer Kolonialherrschaft in Eritrea (Teil 1)

Veröffentlicht am 8. Februar 2024 um 11:47

Dr. Mussie Habte 

Einführung

Der Kolonialismus stellt in der Geschichte vieler afrikanischer Staaten eine Zäsur dar, leitete er doch die Zerschlagung der traditionellen afrikanischen Herrschaftsstrukturen und ihre Ersetzung durch europäische Fremdherrschaft ein. Dank ihrer technologischen und militärischen Überlegenheit gelang es den europäischen Kolonialmächten im „scramble for Africa“ den Kontinent willkürlich und nach Gutdünken unter sich aufzuteilen. Die koloniale Eroberung und Unterwerfung Afrikas vollzog sich jedoch nicht nur auf militärische Ebene. Eine ebenso wichtige Rolle spielte in diesem Prozess auch das koloniale Bildungssystem, das von den Kolonialmächten in den afrikanischen Kolonien etabliert wurde. Für die europäischen Kolonialmächte war Bildung neben dem Militär das zentrale Herrschaftsinstrument, denn als Mittel der kolonialen Machtpolitik diente sie zur Konsolidierung und Stabilisierung der Kolonialherrschaft. Die Bildungssysteme, die nach europäischer Provenienz konzipiert waren und den afrikanischen Schulkindern aufoktroyiert wurden, hatten mit den realen sozioökonomischen, soziopolitischen und soziokulturellen Bedingungen nichts gemein. Vielmehr basierten sie ausschließlich auf den Interessen und Bedürfnissen der Kolonialmächte. Dementsprechend waren die Bildungsinhalte höchst eurozentrisch. Die Erziehungssysteme zielten nicht darauf ab, Selbstvertrauen zu erzeugen oder gar die jungen Menschen zu selbstbewussten Mitgliedern einer afrikanischen Gesellschaft zu machen; vielmehr war ihr Bestreben, diese zur Ehrerbietung gegenüber allem Europäischen und zu geistiger Unterwerfung zu drillen.

Der folgende Aufsatz möchte am Beispiel Eritreas die Rolle von Bildung im Kolonialismus untersuchen. Eritrea ist wie die meisten Staaten Afrikas ein von den Kolonialmächten geschaffener Nationalstaat: Das heutige Eritrea ist als politisch-administrative Einheit im Zuge des italienischen Kolonialismus entstanden. Der koloniale Vorstoß in der Region begann bereits 1869. Nach und nach gelang es Italien das Territorium endgültig zu unterwerfen und 1890 Eritrea offiziell zu seiner Kolonie zu proklamieren, die bis 1941 unter italienischer Kolonialherrschaft blieb.

Eritreas Beginn als italienische Kolonie (i)

Die Anfänge des kolonialen Bildungswesens

 Die Einführung und Expansion europäischer Bildungsansätze in Eritrea ist nicht auf eine Initiative Italiens zurückzuführen. Lange bevor das Land unter italienische Kolonialherrschaft geriet, kam ein ganz kleiner Teil der eritreischen Bevölkerung mit europäischen Bildungs­institutionen und -inhalten in Kontakt. So wurden die ersten Grundsteine für ein europäisch geprägtes Bildungswesen von Missionaren gelegt. Namentlich sind hier vor allem die französischen Lazaristen zu nennen, die seit 1840 in der Region Missionsstationen unterhielten und im Rahmen ihrer Missionstätigkeit auch den Aufbau von Schulen und die Einführung von westlichen Bildungsinhalten betrieben. Die Lazaristen hatten bereits 1872 in der Stadt Keren ein kleines Priesterseminar eröffnet, das von Kindern der einheimischen Bevölkerung frequentiert wurde. Außerdem installierten sie im Juli 1879 in Keren eine eigene Druckerei, wo sie Materialien produzieren konnten, die sowohl für den Schulunterricht als auch für die Missionstätigkeiten benötigt wurden.

Mit der Eröffnung einer zweiten Schule in Akrur – in der Region Akkele Guzai – im Jahre 1880 gelang es den Lazaristen ihre Bildungsaktivitäten auch auf das eritreische Hochland auszuweiten.[1] Die Lazaristen konnten jedoch ihr bildungspolitisches Engagement aufgrund von Spannungen mit der italienischen Kolonialverwaltung – Eritrea war in der Zwischenzeit (ab1890) zur italienischen Kolonie erklärt worden – nicht wie erwartet weiterführen und ausbauen. Denn die bildungspolitischen Tätigkeiten der Lazaristen waren der italienischen Kolonialverwaltung ein Dorn im Auge; zumal unterschiedliche Bildungsvorstellungen und die Weigerung der Lazaristen, das Italienische an ihren Schulen einzuführen, immer mehr zu Reibungen mit der Kolonialverwaltung führten.

Vor diesem Hintergrund begann Italien die französischen Missionare zunehmend als eine Gefahr für seine kolonialen Ambitionen zu betrachten.[2] Angesichts dieser Spannungen verschlechterten sich das Verhältnis zwischen der Kolonialmacht und den französischen Missionaren zusehends. Am 4. Februar 1894 kulminierten diese Divergenzen schließlich in der Ausweisung der Lazaristen aus Eritrea. Um das entstehende Vakuum zu schließen, einigten sich der italienische Staat und der Vatikan darauf, die Verantwortung über die katholische Mission dem Kapuzinerorden der Kleinen Brüder zu übertragen. Diese übernahmen unter anderem auch die Bildungseinrichtungen in Keren und Akrur und entwickelten sich mit der Zeit zur bevorzugten Missionsgesellschaft der italienischen Kolonialverwaltung. 

Neben den französischen Lazaristen unterhielt auch die Schwedische Evangelische Mission (Svenska Evangeliska Fosterlandsstiftelesen), die im Jahre 1861 in der Hafenstadt Massawa gelandet war, Bildungseinrichtungen in Eritrea. Diese errichteten bereits fünf Jahre (1866) nach ihrer Niederlassung auf eritreischem Territorium in Monkullu bei Massawa die erste Schule, in der Kinder der lokalen islamischen Bevölkerung aufgenommen wurden. Mit der Zeit konnte die Missionsgesellschaft ihre Bildungsaktivitäten auch auf andere Regionen des Landes ausweiten, unter anderem sich auch auf dem Hochland festsetzen. 1907 unterhielten die schwedischen Missionare Grundschulen in Asmara, Adi Ugri, Zazzega, Belesa, Baresa, Himbirti, Cullucu, Ghinda, Monkullu und Assab. Die schwedische Missionsgesellschaft unterhielt im Jahre 1910 landesweit zwölf Missionsschulen, in denen 810 Schüler unterrichtet wurden.[3]

Schwedische evangelische Mission in Asmara (ca. 1900) (ii)

Wie die Lazaristen verfügte auch die schwedische Mission über eine eigene Druckerei, in der Unterrichtsmaterialien für die Schule und religiöse Literatur für die Missionierung in den einheimischen Lokalsprachen Tigrinya, Tigre und Kunama produziert wurden. In diesem Zusammenhang muss auch erwähnt werden, dass es schwedische Missionare waren, die im Rahmen ihrer Missionierungstätigkeiten eine erste Übersetzung der Bibel in die Lokalsprachen vornahmen. Da im Vergleich zu den Lazaristen die schwedische Mission keine politische Gefahr darstellte, wurde ihre Bildungsarbeit von der italienischen Kolonialverwaltung vorerst wohlwollend geduldet – wenn auch mit viel Skepsis. Die Kolonialverwaltung ließ die schwedische Mission zwar weiter gewähren und garantierte ihnen hierfür auch den nötigen Schutz und Sicherheit. Dennoch war die Zusammenarbeit nicht frei von Spannungen und Reibungen. 

Eine Druckerei in Imkullu aus dem Jahr 1879 (iii) 

Einheimische und schwedische Missionare bei der Bibelübersetzung  (iv)

Das Hauptziel der Missionsschulen bestand darin, die Verbreitung der christlichen Religion voranzutreiben. Daher verwundert es auch nicht, dass die Unterrichtsmaterialien und -inhalte sehr stark religiös geprägt waren und die Bildungsarbeit in erster Linie unter dem Aspekt der Gewinnung neuer Mitglieder der jeweiligen Religionsgemeinschaften stand. Die Schule als Ort der christlichen Erziehung sollte demnach in erster Linie aus einheimischen Konvertiten indigene Multiplikatoren für weitere Missionsarbeit schaffen. Neben der religiösen Erziehung wurde den Kindern in den Missionsschulen aber auch Rechnen, Lesen, Schreiben, Geografie und Geschichte sowie eine Reihe praktischer Fertigkeiten vermittelt.   

Die ersten Jahre des italienischen Kolonialengagements in Eritrea waren – wie oben bereits aufgezeigt – von pädagogischer Passivität und Interesselosigkeit der kolonialen Behörden geprägt. Die Kolonialverwaltung überließ das Erziehungsfeld und die Bildungsarbeit gänzlich den in der Kolonie tätigen Missionsgesellschaften.[4] Zwei wesentliche Faktoren spielten hier eine Rolle: Zum einen war Italien in den ersten Jahren mit der Konsolidierung seiner Kolonialherrschaft beschäftigt. Dies galt vor allem für die Zeit nach der militärischen Niederlage in der Schlacht von Adua (1896). Der herbe militärische Rückschlag bedeutete für Italien eine Zäsur, da durch diese Niederlage die italienischen kolonialen Ambitionen in Nordostafrika in ihren Grundfesten erschüttert wurden. Als Folge der verheerenden militärischen Niederlage musste Italien seine Expansionspläne vorerst ad acta legen. Vielmehr sahen sich die Italiener in den darauffolgenden Jahren mit der Situation konfrontiert, ihre Kolonialherrschaft in der Kolonie zu stabilisieren und zu konsolidieren. D.h. die Kolonialverwaltung war mit der Herstellung und Durchsetzung von Ordnung und Sicherheit beschäftigt. Vor diesem Hintergrund schenkte die Kolonialverwaltung ihre ganze Aufmerksamkeit allein den militärischen und ökonomischen Anforderungen und überließ dabei die Verantwortung für die Erziehung der Kinder und Jugendlichen den Missionsgesellschaften.

Zum anderen zeigte der Kolonialstaat aber auch kaum Interesse daran, für die einheimische Bevölkerung ein Bildungssystem aufzubauen. Die Apathie und Gleichgültigkeit der Kolonialadministration hinsichtlich eines kolonialen Bildungswesens für die kolonialisierte Bevölkerung rührte aus der Tatsache, dass Bildung von ihr als eine Gefahr für das Kolonialregime angesehen wurde. Der Kolonialstaat fürchtete vor allem die möglichen Folgen, die eine akademische Erziehung haben könnte. Insbesondere wurde befürchtet, dass sich durch die Bildung bei der eritreischen Bevölkerung Selbstbewusstsein und Konkurrenzdenken ausbreiten und dadurch das Herr-Knecht-Verhältnis, auf dem der Kolonialismus basierte, unterminiert werden könnte.

Allen voran Ferdinando Martini, der von 1897 – 1907 als erster Zivilgouverneur der italienischen Kolonialverwaltung vorstand, profilierte sich als ein entschiedener Gegner des Aufbaus und der Einführung eines Bildungssystems für die einheimische Bevölkerung.

Ferdinando Martini, erster Zivilgouverneur der italienischen Kolonialverwaltung in Eritrea (1897 – 1907) (v)

Er begründete seine strikte Ablehnung so:

„First point, no, and again no to mixed schools for white and blacks. The native child, more agil and alert, has the intelligence of the white child; therefore avoid confrontation. (…) Schools for blacks? Is it worth their establishment? (…) We can not use in postal and telegraph services. And happy the day when we do not even require the services of the natives as interpreters. … As for aping some Italians, they can learn it by themselves.”[5] 

In diesem Zitat spiegeln sich nicht nur die rassistisch-kolonialistischen Überzeugungen Martinis wider, sondern zugleich auch seine Furcht vor den gesellschaftspolitischen Implika­tionen eines liberalen Bildungssystems. Martini befürchtete, dass eine gebildete Bevölkerung das Grundfundament des Kolonialismus erschüttern und die Durchsetzung der kolonialen Herrschaft konterkarieren könnte. Denn für Martini waren Kolonien das Ergebnis der militärischen und zivilisatorischen Überlegenheit der Europäer gegenüber ihren Untertanen. Vor diesem Hintergrund vertrat er die Ansicht, dass der Fortbestand der Kolonien nur durch eine strikte Segregation der Rassen, die bedingungslose Durchsetzung der europäischen Hegemonie und die Restriktionen der einheimischen Bevölkerung im Hinblick auf den Zugang zur westlichen Bildung aufrecht erhalten und garantiert werden könne.[6]      

Aufgrund dieser Vorbehalte lehnte Martini während seiner Amtszeit den Aufbau eines staatlichen Schulsystems für die einheimische Bevölkerung ab. Diese Aufgabe wurde vielmehr von Missionsgesellschaften übernommen, die vielerorts kleinere Missionsschulen unterhielten und so rudimentäre Bildung anboten. Staatliche Schulen gab es lediglich für die Kinder der italienischen Kolonialisten. Diese europäischen Schulen standen außer italienischen Staatsbürgern auch anderen Europäern und den so genannten „Assimilati“[7] offen. Mit dem Aufbau eines solchen Bildungssystems reagierte der Kolonialstaat auf die steigende Zahl von Familien in der europäischen Bevölkerung[8] und deren verstärkten Bedarf an Bildungs­möglichkeiten für ihre Kinder. Die ersten Regierungsschulen für die Kinder der Europäer und Assimilati wurden bereits 1903 in Asmara und Keren und 1905 in Adi Ugri eingerichtet. Die Lehrkräfte, die an diesen Schulen unterrichteten, wurden zum Teil aus dem Mutterland rekrutiert.

Charakteristisch für das Bildungswesen, dem Martini vorstand, war die rassische Segregation in getrennten Schulsystemen für Europäer und Eritreer. Den eritreischen Kindern wurde der Zugang zu den Regierungsschulen, die ausschließlich Europäern offenstanden, nicht gewährt. Während Martinis Amtszeit blieben für die Eritreern nur die Missionsschulen zugänglich. Aber selbst diese standen nicht allen Schülern offen, da ihr Besuch oft mit der Aufgabe der alten Religion und dem Übertritt zum Katholizismus oder Protestantismus gekoppelt war. Aus diesem Grund erreichten diese Schulen nur eine kleine Minderheit der Bevölkerung. Bei der Mehrheit der eritreischen Bevölkerung dagegen stießen die Missionare auf weitgehendes Desinteresse und Ablehnung.  

Zur Veränderung in der kolonialen Bildungspolitik sollte es erst mit der Ernennung von Salvago-Raggi zum neuen Gouverneur kommen. Salvago-Raggi, der über langjährige diplomatische Erfahrungen in Kairo und Peking verfügte, setzte sich im Gegensatz zu seinem Vorgänger Martini aktiv für die Errichtung von staatlichen Schulen für die eritreische Bevölkerung ein. Am 31. Januar 1909 wurde auf seine Initiative hin die erste Richtlinie, die die Bildungspolitik in der Kolonie bestimmte, verabschiedet. Hierin wurden auch die Strukturen des künftigen formalen kolonialen Erziehungs-Bildungssystems niedergelegt, wonach es weiterhin rassisch getrennte Schulen für Italiener und Eritreer geben sollte.

Salvago Raggi, neuer Gouverneur von Eritrea (1907-1915) beim Begutachten der Kolonialtruppen im Jahre 1907 (vi)

Der erste Artikel dieses Erlasses befasste sich mit der Bildung für die italienischen Staatsbürger. Darin wurde verankert, dass für alle weißen Kinder in der Kolonie im Alter zwischen sieben und sechzehn Grundbildung verpflichtend sei. In diesem Bildungssystem kam das komplette italienische Grundschulcurriculum zur Anwendung. 

Auf die Bildungsmöglichkeiten für Eritreer wurde explizit in Kapitel II eingegangen. Nach der Bestimmung wurde das koloniale Bildungssystem für die einheimische Bevölkerung vollstän­dig unter die Kontrolle des Gouverneurs gestellt. Damit hatte nur er die alleinige Verant­wortung, über inhaltliches Programm und Vorschriften zu entscheiden.

Unmittelbar nach der Verabschiedung der gesetzlichen Grundlage wurde im gleichen Jahr noch die erste staatliche Kolonialschule in Adi Ugri eröffnet. Aufgenommen wurden in dieser Schule hauptsächlich Söhne[9] führender Familien der eritreischen koptischen Christen, die mit dem Kolonialregime kollaborierten. Zwei Jahre später (1911) wurde in Keren eine weitere Schule eingerichtet, in der Söhne von muslimischen Häuptlingen und anderen Persönlichkeiten, die ebenfalls mit dem Kolonialregime kollaborierten, aufgenommen und ausgebildet wurden. Eine weitere dritte Schule, die für die katholische Bevölkerung gedacht war, wurde außerdem 1914 in Saganeiti gegründet. In dieser Schule wurden – auf Drängen der katholischen Mission – insbesondere Söhne von regionalen Notabeln, die zum Katholizismus konvertiert waren, und Mischlingskinder, die nicht von ihren italienischen Vätern anerkannt wurden, aufgenommen. Bei diesen Regierungsschulen, die nach dem Vorbild der britischen Kolonialschulen in Kassala (Sudan) und Alexandria (Ägypten) gebaut wurden, handelte es sich um Primar- und Berufsschulen. Unterrichtet wurde vor allem Italienisch, Tigrinya bzw. Arabisch, Arithmetik und ein wenig Geschichte und Geographie. Der Schwerpunkt bei der Ausbildung wurde vor allem auf die Vermittlung von einfachen handwerklichen Kenntnissen und Fertigkeiten gelegt. In diesen Schulen sollten demnach billige einheimische Arbeitskräfte für die einfachen Verwaltungsarbeiten – für den Zoll, die Post, die Eisenbahn (Lokführer und Schaffner) sowie als Dolmetscher etc. –, ausgebildet werden. Daneben bildeten körperliche Ertüchtigung und militärischer Drill, der für alle Kinder obligatorisch war, einen zentralen Bestand der Ausbildung. Smith-Simonsen fasst die Bildungsziele der Regierungsschulen folgendermaßen zusammen: a) Verbreitung einer neuen Kultur und Zivilisation in der lokalen Bevölkerung; b) Vermittlung von elementarer Bildung an die Söhne der Häuptlinge, damit diese später ihre Väter in der Administration der Dörfer und Stämme folgen können; c) Vorbereitung der jungen Eritreer für Posten für den Privatsektor oder Regierungsverwaltung; d) Ausbildung der jungen Eritreer in den verschiedenen Handwerken; und e) Ausbildung von guten Rekruten für die Kolonialarmee.[10] 

Die Salvago-Raggi-Schule in Keren (vii)

Nach De’Medici wurden die ersten Regierungsschulen mit der Zielsetzung aufgebaut, um die Söhne der einheimischen Notabeln und Adeligen, stärker an den Kolonialstaat zu integrieren. Denn durch die koloniale Besetzung Eritreas wurde die alte Aristokratie aus ihrer privilegierten Stellung vertrieben und darüber hinaus musste sie miterleben, wie ihre moralischen und materiellen Vorteile, die mit ihrem verlorenen politischen und sozialen Status verknüpft waren, zusehends schwanden. Sie stellte langfristig für den Kolonialstaat eine Gefahr dar. Die Kinder dieser edlen Familien besuchten nicht die Missionsschulen, in denen eine andere Religion als die eigene gelehrt wurde, weil sie befürchteten, sie würden Bekehrungsbemühungen ausgesetzt; sie pflegten kein Handwerk zu erlernen, da sie Handwerke mit ihrem Sozialstatus für nicht vereinbar hielten; und sie meldeten sich auch nicht zum Dienst in der einheimischen Truppe, um zu vermeiden, unter Vorgesetzte von niedriger Herkunft gestellt zu werden. Um Erziehung und Beschäftigung für diese spezielle Klasse von Jugendlichen zu schaffen, gründete die Regierung Eritreas eine ihnen angepasste Schule, in der sie dazu ausgebildet werden konnten, würdige Mitglieder der eingeborenen Truppen, Dolmetscher, Schreiber, Telegrafisten, Schreibmaschinen­schrei­ber zu werden; da sie aus Befähigung und Tradition dem Waffenhandwerk zuneigten, wurde der Schule ein militärischer Zug gegeben.[11] 

Im Jahr 1916 verabschiedete die Kolonialverwaltung ein weiteres Dokument[12], das Bestimmungen hinsichtlich der Bildung der einheimischen Bevölkerung enthielt und das an alle Kommissare sowie Leiter der einzelnen Missionsgesellschaften verteilt wurde. Die Verordnung skizzierte die allgemeinen Ziele und Motive des Kolonialstaates und betonte, dass Bildung eine wichtige Verpflichtung des Kolonialstaates sei. Sie führte weiter aus, dass die Bildungsarbeit im Rahmen der „Zivilisierungsmission“ des Kolonialstaates ein zentrales Instrument sei und daher und vor allem aus politischen Gründen klare Leitlinien notwendig seien. Zugleich wurde in dem Dokument nachdrücklich das Potential von Schule als Ort der Transformation anerkannt, an dem der Geist und Intellekt der Einheimischen im Sinne der kolonialen Doktrin verändert werden könnte. Die neue Generation von Untertanen, die unter der italienischen Flagge aufwuchs sollte demnach dazu gedrillt werden, die Leistungen der italienischen Kolonialherrschaft demütig zu würdigen und ihre Prestige zu verehren  Ohne explizit auf die sozialen und gesellschaftlichen Implikationen von Bildung für die einheimische Bevölkerung  einzugehen, wurden in der Verordnung die Distriktverwalter und Leiter der Missionsschulen dazu aufgefordert, den traditionellen Schulen, die von Klöstern und Moscheen betrieben wurden, mehr Aufmerksamkeit zu schenken und sie zu fördern. Zudem wurden die Distriktverwalter angehalten, monatlich einen Bericht über die Schulentwicklung – Stand der Ausbildung, Disziplin und Sanitätszustände - in ihren jeweiligen Regionen an das Büro für soziale Angelegenheiten vorzulegen. Private Bildungseinrichtungen dagegen wurden aufgefordert, ein Bildungsprogramm zu entwickeln, das sich eng an dem italienischen Bildungssystem orientieren sollte. Darüber hinaus wurden diese angehalten, ihr Bildungsangebot ausschließlich auf die Primärschulbildung zu beschränken, die drei Jahre dauern sollte.

Die Bildungsverordnung blieb zwar in ihren Vorgaben und Zielsetzungen hinsichtlich der Bildungspolitik für die einheimische Bevölkerung sehr vage. Dennoch können aus ihr zwei Schlussfolgerungen gezogen werden: erstens das Anliegen des Kolonialstaates, die Bildung der einheimischen Bevölkerung ausschließlich auf die Grundschule zu beschränken; und zweitens die Erkenntnis des/der transformativen Charakters/Rolle von Schule bei der Veränderung der geistigen und psychologischen Anschauungen der Eritreer.  


Fußnoten: 

[1] Vgl. Ghebremuse, T.: Survey of Eritrean Education: Traditional and Modern. In: Eritrean Studies Review. Vol. 4, Nr. 1, S. 137.

[2] Vgl. Ghebremuse, T.: Survey of Eritrean Education: Traditional and Modern, a.a.O., S. 137.

[3] Vgl. Negash, T.: Italian Colonialism in Eritrea, 1882-1941. Policies, Praxis and Impact. Uppsala 1987, S. 82.

[4] Vgl. Taye, A.: A Historical Survey of state Education in Eritrea. Asmara 1991, S. 22.

[5] Ferdinando Martini: Il diaro Eritrea, Vol. 2, p. 472, for 27.5.1901.

[6] Vgl. Negash, T.: Italian Colonialism in Eritrea, 1882 – 1941. Policies, Praxis and Impact. Uppsala 1987, S. 68.

[7] Zu der Gruppe der Assimilati gehörten Ägypter, Syrer, Amerikaner und allgemein alle, die aus Europa stammenden Gruppen angehörten oder eine mit den Europäern vergleichbare Zivilisation aufwiesen. Auch Mischlingskinder, die aus Beziehungen eritreischer Frauen mit italienischen Männern und mit Männern der Gruppe der Assimilati hervorgegangen sind, wurden unter dieser Gruppe zusammengefasst.

[8] 1905 lebten schätzungsweise 3.949 Europäer in Eritrea. 834 von ihnen waren Militärangehörige. Die Zahl der italienischen Staatsbürger betrug 2.333. 

[9] Die Kolonialschulen, die von der Kolonialverwaltung für die Einheimischen aufgebaut wurden, standen nur den männlichen Nachkommen offen. Junge Mädchen waren von der Aufnahme ausgeschlossen. Dies galt auch für die Missionsschulen. Denn auch hier wurden nur Jungs aufgenommen.

[10] Smith-Simonsen, C.: „…all’Ombra della Nostra Bandiera.“ A Study on Italian Educational Activities in Colonial Eritrea 1890-1941. Unveröffentliche Magisterarbeit, Tromse 1997, S. 86-87.

[11] D’Medici, M.: Native Education in the Italian Colonies. In: Educational Yearbook (ed. Kandel, I.L.) Teachers College, Colombia University New York 1932, S. 654.

[12] Dieses Dokument (italienisch Cricolare) wurde vom damaligen Gouverneur De Martino verabschiedet. 

 

Bildquellen: 

i) https://als.wikipedia.org/wiki/Italienisch-Eritrea#/media/Datei:Italian_Eritrea_1922.jpg

ii) https://www.bing.com/images/blob?bcid=RCQgk3zOaKYGqxcxoNWLuD9SqbotqVTdP6w (Facebook Vintage Eritrea)

iii, iv) https://shabait.com/wp-content/uploads/2021/09/shabait73485.jpg

v) https://zantana.net/static/08991c43ca11606f675a0f7ced45f894/38f6f/ferdinando_martini_first_gov_of_eritrea.jpg

vi) https://primary.jwwb.nl/public/p/s/b/temp-isyqggdwurssshjnhdao/41pol7/1200px-giuseppe_salvago_raggi_in_eritrea-1.jpg

vii) https://primary.jwwb.nl/public/p/s/b/temp-isyqggdwurssshjnhdao/cheren-la-scuola-salvago-raggi-2.webp

 

 

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