Dr. Mussie Habte
Am Ende des Jahres 2023 sorgte Äthiopiens Ministerpräsident, Dr. Ahmed Abiy, für Aufsehen, als er verkündete, dass Äthiopien "eine Nation ist, deren Existenz mit dem Roten Meer verbunden ist" und dass es daher einen Zugang zu einem Hafen benötige. Diese Aussage beinhaltete die brisante Möglichkeit, diesen Zugang sowohl auf friedlichem Wege als auch durch die Androhung von Gewalt erkämpfen zu wollen. Obwohl die äthiopische Regierung später von diesen kriegerischen Aussagen zurückruderte und betonte, friedliche Absichten zu verfolgen, werfen sie ein Schlaglicht auf tief verwurzelte imperialistische Großmachtdynamiken in der gegenwärtigen äthiopischen Politik.

Äthiopiens Premierminister Dr. Ahmed Abiy vor dem Parlament (1)
Die Reaktionen auf Abiys Äußerungen ließen nicht lange auf sich warten. Äthiopiens unmittelbare Nachbarn Eritrea, Djibouti und Somalia wiesen die Forderungen Abiys umgehend und vehement zurück. Trotz der späteren Entschärfung der Rhetorik durch die äthiopische Regierung offenbarten diese Vorgänge die geopolitischen Spannungen in der Region.
Die Äußerungen von Äthiopiens Ministerpräsident Dr. Ahmed Abiy, die einen Zugang zum Meer fordern, haben nicht nur auf regionaler Ebene für Unruhe gesorgt, sondern auch innerhalb der äthiopischen Gesellschaft eine besorgniserregende Resonanz gefunden. Insbesondere die Reaktionen einiger äthiopischer Intellektueller auf Abiys Forderungen werfen einen Schatten auf die gesellschaftlichen Debatten im Land. Die öffentliche Unterstützung für Abiys Forderungen seitens einiger äthiopischer Intellektueller zeigt, wie tiefgehend historische und als legitim empfundene Ansprüche in der Wahrnehmung der Gesellschaft verankert sind. Diese intellektuellen Kreise griffen die Aussage von Abiy wohlwollend auf und erweiterten sie um die Überzeugung, dass Äthiopien einen historischen und legitimen Anspruch auf einen Zugang zum Meer besitze.
Die Diskussionen innerhalb der äthiopischen Gesellschaft verdeutlichen, dass die Frage nach einem Zugang zum Meer nicht nur politisch, sondern von einigen Kräften auch als vorgeblich identitätsstiftend instrumentalisiert wird. Historische Narrativen werden mobilisiert, um die Forderungen Abiys zu legitimieren. Diese Entwicklung ist besorgniserregend, da sie das Potenzial hat, die Beziehungen zu den unmittelbaren Nachbarn weiter zu belasten.
Ministerpräsident Abiy, aber auch die Mehrzahl der äthiopischen Intellektuellen argumentieren gerne mit dem Völkerrecht, um dem Anspruch auf einen Meerzugang eine rechtliche Basis zu geben. Das Internationale Übereinkommen über die Hohe See legt klare Prinzipien für den Zugang zum Meer für Binnenstaaten fest. Artikel 3 des Übereinkommens betont, dass den Binnenstaaten auf der Grundlage der Gegenseitigkeit der freie Durchgang durch das Hoheitsgebiet der Staaten, die zwischen dem Meer und einem Binnenstaat liegen, gewährt werden soll. Der Begriff "freier Durchgang" hebt die Bedeutung der Bewegungsfreiheit hervor, schreibt jedoch keinen direkten Zugang zum Meer vor. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass Artikel 3 von einem "freien Durchgang" zum Meer spricht, nicht aber von einem direkten "Zugang zum Meer". Dieser feine Unterschied hat große Bedeutung, da das Völkerrecht klare Richtlinien setzt, die sorgfältig interpretiert werden müssen.
Ein Vergleich mit dem Fall Boliviens verdeutlicht dies: Nach dem Friedensvertrag von 1904 mit Chile wurde Bolivien der direkte Zugang zum Pazifik versperrt, und das Land wurde zu einem Binnenstaat. Obwohl Bolivien in den letzten Jahren versucht hat, die Frage des Meereszugangs erneut zu verhandeln, entschied der Internationale Gerichtshof 2018 in Den Haag, dass Chile nicht verpflichtet sei, mit Bolivien über einen Zugang zum Pazifik zu verhandeln. Dieses Urteil stützte sich auf die Entscheidung von 1904 und bestätigte somit die bestehenden Grenzen.

Landkarte von Bolivien und Chile im Südamerika (2)
Die äthiopische Regierung sorgte zu Beginn des neuen Jahres für Aufsehen, als sie am 1. Januar 2024 ein Memorandum of Understanding mit der selbsternannten Republik Somaliland unterzeichnete. Premierminister Abiy Ahmed und Somalilands Präsident Muse Bihi Abdi unterzeichneten die Absichtserklärung, die Äthiopien Zugang zum Hafen von Berbera am Golf von Aden sowie zu einer gepachteten Militärbasis gewährt. Obwohl der genaue Text der Vereinbarung nicht veröffentlicht wurde, erklärte Präsident Muse Bihi Abdi, dass sie die Verpachtung von über 19 Kilometern Seezugang um Berbera für 50 Jahre an die äthiopische Marine beinhaltet. Im Gegenzug erhält Somaliland nicht nur die offizielle Anerkennung der äthiopischen Regierung, sondern auch eine Beteiligung an der staatlichen Fluggesellschaft Ethiopian Airlines.
Diese Vereinbarung sorgte für große Empörung in Somalia, dessen Regierung die Vereinbarung als „illegitim“ ablehnte und sie als Bedrohung für die Stabilität und den Frieden in der Region bezeichnete. Als ersten Schritt rief Somalia sofort seinen Botschafter aus Addis Abeba zurück. In einer harten Erklärung der somalischen Regierung nach einer Dringlichkeitssitzung unter dem Vorsitz von Premierminister Hamza Abdi Barre wurde das Memorandum of Understanding und die Kooperationsvereinbarung als „null und nichtig“ bezeichnet.

Premierminister Dr. Abiy Ahmed und Somalilands Präsident Muse Bihi Abdi während der Unterzeichnung des Memorandum of Understanding (3)
Die somalische Regierung betrachtet die Vereinbarung als eine klare Verletzung ihrer Souveränität, Freiheit und Einheit. Präsident Hassan Scheich Mohamud kündigte die Vereinbarung und bezeichnete sie als inakzeptabel für die Interessen Somalias. Die diplomatischen Spannungen zwischen Äthiopien, Somaliland und Somalia sind somit in einem neuen Kapitel angekommen, und die internationale Gemeinschaft wird aufmerksam beobachten, wie sich die Situation weiterentwickelt.

Landkarte von Somalia am Horn von Afrika (4)
Aber auch international ist der Vorstoß Äthiopiens auf heftige Kritik und Widerstand gestoßen. Die Afrikanische Union und die Vereinigten Staaten haben zu Ruhe und insbesondere Äthiopien zur Achtung der Souveränität und territorialen Integrität Somalias aufgerufen. In einer Erklärung betonte die Europäische Union, dass es wichtig sei „die Einheit, die Souveränität und die territoriale Integrität der Föderalen Republik Somalia gemäß ihrer Verfassung, den Chartas der Afrikanischen Union und der Vereinten Nationen zu respektieren“.[1] Am 3. Januar führte der ägyptische Präsident Abdel Fattah el-Sisi ein Telefongespräch mit dem somalischen Präsidenten. Dabei untermauerte er, dass Ägypten auf der Seite Somalias sei und dessen Sicherheit und Stabilität unterstütze.
Eritrea hat bisher zwar keine offizielle Stellungnahme zum Vorgehen Äthiopiens veröffentlicht, aber der Besuch des somalischen Präsidenten in Eritrea unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Absichtserklärung verdeutlicht, dass die eritreische Regierung auf Seiten Somalia steht. Die eritreische Regierung macht keinen Hehl daraus, dass die staatliche und territoriale Integrität Somalia für sie große strategische Bedeutung hat. Aus diesem Grund hat Eritrea in den letzten Monaten über 10.000 somalische Soldaten in Eritrea militärisch ausgebildet.
Die brisante Situation am Horn von Afrika verdeutlicht die Fragilität der Gesamtsituation in dieser Region. Die Spannungen zwischen Somalia und Äthiopien tragen das Risiko, sich rasch zu einem offenen Konflikt zu entwickeln. In Anbetracht dieser Herausforderungen bleibt zu hoffen, dass Äthiopien von seinem bisherigen aggressiven Kurs abrückt und stattdessen den Dialog mit seinen Nachbarn sucht.

Das Horn von Afrika (5)
Ein konstruktiver Dialog und diplomatische Verhandlungen sind entscheidend, um eine Eskalation zu verhindern. Die internationale Gemeinschaft könnte eine unterstützende Rolle spielen, indem sie sich für friedliche Lösungen einsetzt und auf eine Deeskalation der Spannungen drängt. Es ist von großer Bedeutung, dass die beteiligten Parteien ihre Differenzen durch Gespräche und Verhandlungen beilegen, um eine weitere Verschärfung der Lage zu verhindern.
Die Folgen eines bewaffneten Konflikts in dieser bereits fragilen Region wären verheerend. Ein offener Krieg hätte nicht nur schwerwiegende Auswirkungen auf die betroffenen Länder, sondern könnte auch zu einer regionalen Krise mit globalen Konsequenzen führen. Daher ist es von höchster Wichtigkeit, dass alle Akteure besonnen handeln und sich für eine friedliche Lösung einsetzen.
Die internationale Gemeinschaft, insbesondere Organisationen wie die Vereinten Nationen und die Afrikanische Union, sollten ihre Bemühungen verstärken, um Vermittlung und Dialog zu fördern. Nur durch eine kooperative Herangehensweise aller beteiligten Parteien kann eine nachhaltige Lösung für die bestehenden Herausforderungen am Horn von Afrika gefunden werden.
[1] Ethiopia/Somalia: Statement by the Spokesperson on the territorial integrity of the Federal Republic of Somalia: https://www.eeas.europa.eu/eeas/ethiopiasomalia-statement-spokesperson-territorial-integrity-federal-republic-somalia_en
Bilderqellen:
1) https://ethiopianembassy.org/pm-abiy-ahmed-ali-responds-to-parliament-today-key-takeaway-messages-july-5-2021/
2) https://www.stepmap.de/
3) https://waltainfo.com/
4) https://www.welt-sichten.org/artikel/38873/das-bessere-somalia
5) https://www.worldmap-knowledge.com/amp/articles/where-is-the-horn-of-africa.html
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